Soziale Proteste in Frankreich

Für Roma und Rente

Die Proteste gegen die Roma-Politik der französischen Regierung dauern an. Zugleich gingen hunderttausende Menschen gegen die angekündigte Rentenreform auf auf die Straße. Die Gewerkschaften planen weitere Mobilisierungen in den nächsten Wochen. Obwohl kleine Zugeständ­nisse gemacht worden sind, gilt die Reform als beschlossene Sache. Sie soll im Oktober im Eilverfahren verabschiedet werden.

Der Protest erreichte in Frankreich in den vergangenen Tagen neue Höhen. Am Sonntag demonstrierten Amateur-Bergsteiger und professionelle Alpenführer auf dem Gipfel des Mont Blanc, des höchsten Bergs Frankreichs, gegen die Abschiebungen von Roma und gegen die rassistische Politik der Regierung.
Auf dem sogenannten »Eismeer«, einem Gletscher am Mont Blanc, wurde das berühmte Bild von Eugène Delacroix, »Die Freiheit führt das Volk«, mit lebenden Figuren nachgestellt. Die Marianne mit dem bonnet phrygien, der aus der Französischen Revolution bekannten roten Zipfelmütze, trug in der einen Hand eine französischen Fahne und in der anderen ein Bajonett. Die Sportsfreunde bezogen sich durch ihren symbolischen Protest auf die bergsteigerischen Leistungen einiger Regierungsmitglieder. Der umstrittene Arbeitsminister Eric Woerth hatte sich wiederholt, von professionellen Bergführern gezogen und geschoben oder an Seilen abgeschleppt, auf französische Berggipfel befördern und dabei fotografieren lassen. Woerth steht derzeit aufgrund seiner korruptionsverdächtigen Verbindungen zur Multi-Milliardärin Liliane Bettencourt (Jungle World 28/10) und der im Parlament debattierten Rentenreform zunehmend in der Kritik.

Die Protestierenden sehen die Grundwerte der Republik, im Sinne ihrer revolutionären und universalistischen Ursprünge, seit einigen Wochen akut bedroht. Etwa durch die Abschiebungen von Roma, bei denen Frankreich nach Angaben von Le Monde inzwischen europaweit an erster Stelle steht. In einem Mehrheitsbeschluss forderte jüngst auch das Europaparlament in Strasbourg die französischen Behörden dazu auf, die Ausweisungen von Roma, die immerhin EU-Bürger sind, unverzüglich auszusetzen. Frankreichs Einwanderungsminister Eric Besson, der sich zu diesem Zeitpunkt in Bukarest aufhielt, um mit den rumänischen Behörden über die Rücknahme unerwünschter Migranten und ihre »Eingliederung« vor Ort zu verhandeln, antwortete darauf knapp, dies komme nicht in Frage.
Der Protest eines immer größeren Teils der französischen Bevölkerung richtet sich auch gegen die Rede, die Präsident Nicolas Sarkozy im Juli in Grenoble hielt. In ihr gab er der Einwanderung die Schuld an der steigenden Kriminalität. Sarkozy hatte explizit vorgeschlagen, französische Staatsbürger nach ihrer Herkunft zu unterscheiden und »Franzosen ausländischer Herkunft« bei bestimmten Straftaten auszubürgern. Dieses Vor­haben rief erheblichen Protest auch in bürgerlich-liberalen Kreisen hervor. Und selbst in der Regierung, in der Einwanderungsminister Besson die Vorschläge von Innenminister Brice Hortefeux als »zu radikal« kritisierte.
Hortefeux hatte den Entzug der Staatsangehörigkeit unter anderem in Fällen »faktischer Polygamie« angeregt, die schwer festzustellen sein dürfte, es sei denn, man tritt für eine rückhaltlose Ausforschung des Privatlebens ein. Dazu hatte er Ende August einen Gesetzentwurf vorgelegt, der die Aberkennung der Staatsbürgerschaft auch als mögliche Konsequenz einer Reihe anderer Straftaten festschreiben sollte. Der Entwurf wurde jedoch erheblich abgeschwächt. Demnach ist die Möglichkeit einer Ausbürgerung nur für die Urheber von versuchten oder vollendeten Tötungsdelikten gegen Polizeibeamte und andere »Repräsentanten der Staatsautorität« vorgesehen. Weniger gravierende Sanktionen gegenüber »faktisch polygamen« Familien, etwa der Entzug von Sozialleistungen, sollen künftig leichter verhängt werden können.
Dass Sarkozy und seine Regierung im Sommer eine Offensive zu den Themen Kriminalität, Einwanderung und Staatsbürgerschaft begannen, lag nicht zuletzt daran, dass sie von vornherein von dem erwarteten sozialen Protest nach Ende der sommerlichen Urlaubsperiode ablenken wollten. Bereits am 24. Juni hatten rund zwei Millionen Menschen gegen die geplante Rentenreform demonstriert. Die Reform, die unter anderem eine Anhebung des Rentenalters und der Beitragsdauer vorsieht, soll bereits in dieser Woche in erster Lesung angenommen werden. Sarkozy will die Rentenreform im Schnellverfahren bis Ende Oktober verabschieden.
Aufgrund des Skandals um Arbeits- und Sozialminister Eric Woerth und die reiche Erbin Liliane Bettencourt, der auch im September noch täglich neue Enthüllungen zu Tage fördert, verschärfte sich der Protest.

Woerth ist restlos diskreditiert. Dass Präsident Sarkozy ihn noch nicht entlassen hat, hat vor allem zwei Gründe: Zum einen möchte er, dass der Minister noch seinen Kopf für die Rentenreform hinhält. Andererseits stünde Nicolas Sarkozy selbst in der ersten Reihe, falls der Minister nicht mehr da wäre, um die »Schläge« abzukommen, wie Woerth es ausgedrückt hat. Die mittlerweile berühmten Umschläge, in denen Woerth – der Anfang 2007 noch Schatzmeister der Regierungspartei UMP war – dicke Bündel von Geldscheinen überreicht worden sein sollen, waren schließlich für den damaligen Präsidentschaftskandidaten Sarkozy bestimmt.
Die Sicherheitskampagne der regierenden Rechten war eindeutig taktisch motiviert und zur Ablenkung von politischen Skandalen bestimmt. Nun hat die Regierung ihr eigenes Anliegen diskreditiert und die Möglichkeiten vergeben, die die durchaus in der Gesellschaft vorhandenen rassistischen Ressentiments zu bieten hatten. 55 Prozent der Bevölkerung stimmten in einer Umfrage, die am 9. September im Nouvel Observateur publiziert wurde, der Aussage zu, die Abschiebungen von Roma verletzten »die republikanischen Grundwerte«. Bei der Demonstration gegen die Roma-Politik der Regierung in Paris waren auffällig viele offenbar unorganisierte Bürger anwesend. Sie stellten die Mehrheit in dem Protestzug.
Die Gruppen der Linken und der sozialen Bewegungen, die diesen Protest organisiert hatten, sowie weitere Gewerkschaftsverbände riefen eine Woche später auch zu den großen Demonstrationen gegen die Rentenreform auf. Am 7. September demonstrierten in ganz Frankreich annähernd drei Millionen Menschen. Die Regierung sah sich zu ersten Zugeständnissen genötigt, die Präsident Nicolas Sarkozy persönlich am darauf folgenden Tag verkündete. Sie ändern aber nichts am »Kernstück der Reform«, wie Premierminister François Fillon die Anhebung der Lebensarbeitszeit und des Rentenalters bezeichnete. Bislang können Arbeitnehmer in Frankreich mit 60 in Ruhestand gehen. Sofern sie mindestens 40,5 Jahre gearbeitet und Rentenbeträge gezahlt haben, erhalten sie dann die volle Rente. Die Regierung will jetzt diese beiden Grenzen bis zum Jahr 2018 schrittweise anheben: Die volle Rente soll es dann frühestens im Alter von 62 und nach 41,5 Arbeitsjahren geben.
Auch, wer erst mit 65 Jahren in den Ruhestand geht, erhält bisher die volle Rente, unabhängig von den Beitragsjahren. Diese Altersgrenze soll nun schrittweise auf 67 angehoben werden. Wer mindestens zehn Prozent Berufsunfähigkeit nachweisen kann, soll weiterhin die Rente mit 60 beantragen können. Zudem sollen Ausnahmeregelungen für Arbeitnehmer verbessert werden, die besonders früh ins Berufsleben eingestiegen sind.
Ausnahmslos alle Gewerkschaften bezeichnen diese Zugeständnisse als unzureichend. Das Durchschnittsalter, bis zu dem Lohnabhängige allgemein über eine gute Gesundheit verfügen, liegt zwischen 63 und 64. Derzeit gehen sie durchschnittlich mit 61 in Rente und können daher im Regelfall noch eine Zeitlang von ihrem Ruhestand profitieren. Das Ziel der Regierung, argwöhnen nicht nur die Gewerkschaften, bestehe darin, die Leute erst dann in Rente gehen zu lassen, wenn sie definitiv körperlich kaputt seien – die Hauptsache sei, dass der ärztlich feststell­bare »Schaden« erst hinterher diagnostiziert werden könne. Allerdings werden in der Praxis nicht alle Lohnabhängigen bis zur Altersgrenze arbeiten, denn schon heute haben nur weniger als vier von zehn Lohnabhängigen in der Altersgruppe der 55- bis 65jährigen noch einen Job, gelten sie doch Unternehmern als »unproduktiv«.

Das zweite, ungenannte Ziel der Reform besteht darin, die Rentenhöhe zu senken, weil aufgrund fehlender Beitragsjahre die Pensionen so niedrig ausfallen werden. Die Leute hören dann zwar früher auf zu arbeiten, können aber von dem ihnen zur Verfügung stehenden Geld nicht leben. Im Hintergrund steht das übergeordnete Ziel, das in einem »Weißbuch Renten« der Europäischen Kommission vom Juli für alle Mitgliedsländer der Union offen benannt wird: »Förderung und Stärkung der Systeme privater Altersabsicherung«. Das bedeutet, privaten Anbietern, wie etwa Versicherungskonzernen, einen neuen, lukrativen Markt zu eröffnen und einen Teil des »Risikos Lebensplanung« zur Privatangelegenheit der Lohnabhängigen zu erklären. Dadurch soll bei diesen zugleich eine stärkere »unternehmerische« Mentalität erzeugt werden.
Keine Gewerkschaft ist bislang mit den Regierungsplänen einverstanden. Auch die französischen Sozialdemokraten haben sich den Protesten demonstrativ angeschlossen. Lautstark verteidigen sie das Renten-Mindestalter 60 als eine »Errungenschaft der Präsidentschaft von François Mitterrand«. Die Sozialistische Partei spricht sich tatsächlich für die Beibehaltung der prinzipiellen Möglichkeit einer Verrentung mit 60 Jahren aus. Allerdings fordert sie dafür mindestens so viele Beitragsjahre wie die konservative Regierung. »41,5 Beitragsjahre ab 2020, und danach eine Erhöhung um die Hälfte des durchschnitt­lichen Anstiegs der Lebenserwartung«. So steht es in einem Flugblatt der Partei, das auf der Demonstration verteilt wurde, kleingedruckt auf der Rückseite.
Auch die CFDT, der zweitgrößte französische Gewerkschaftsbund, tritt für eine Erhöhung der Beitragsdauer auf 41,5 Jahre ein, aber auch für die Möglichkeit einer früheren Rente vor 62 für jene, die sie schon beisammen haben. Im ersteren Punkt geht sie mit den Regierungsplänen konform, nicht hingegen im letztgenannten Punkt.
Kritik daran üben linkere Kräfte im gewerkschaftlichen Spektrum, wie Teile der CGT und die linken Basisgewerkschaften SUD. Bislang halten noch alle Gewerkschaftsorganisationen angesichts der Unnachgiebigkeit der Regierung zusammen. Für den 23. September rufen sie erneut zu einem Aktionstag mit Streiks und Demonstrationen auf.