Portugiesische Migranten in Luxemburg

»Wir müssen mit ihnen leben«

Ab den sechziger Jahren warb die luxemburgische Regierung gezielt portugiesische Arbeiterfamilien an, um den Bausektor und die Stahlindustrie aufzubauen. Die Portugiesen der zweiten oder dritten Generation gelten als »gute Ausländer«, trotzdem arbeiten viele heute noch im Niedriglohnsektor.

Johlende, in überdimensionale Fahnen eingewickelte portugiesische Fans toben durch Differdingen, Autokorsos voller BMW lärmen hupend durch die engen Gassen, das Tröten der Vuvuzelas hallt bis in die frühen Morgenstunden durch die Ortschaft: Als bei der WM Portugal Nordkorea mit sieben zu null besiegte, erlebte die trostlose Kleinstadt eine rauschende Party, wie sie lange nicht gesehen wurde. Ein gutes Drittel der 20 000 Einwohner von Differdingen sind Portugiesen. Der eine oder andere Luxemburger feierte mit, weil es an einer wettbewerbsfähigen luxemburgischen Mannschaft mangelte, doch im Grunde blieben die portugiesischen Einwanderer in der Innenstadt unter sich.
Vom Bahnsteig Déifferdeng auf dem Gleisdamm sieht man die rauchenden Schornsteine des alten Hochofens und das riesige Werksgelände. Man hört Französisch, vereinzelt Luxemburgisch, vor allem aber português. Zwei winzige Häuschen zum Unterstellen, mit eingeschlagenen Fenstern, stehen hier, es gibt nur zwei Gleise, eines führt Richtung Belgien, das zweite über Esch/Alzette nach Luxemburg-Stadt. Differdingen ist die drittgrößte Stadt Luxemburgs. Sie liegt im äußersten Süden des Landes und ist eine Stahlarbeiter-Stadt, mit bröckelnden Fassaden und teilweise verlassenen Häusern im alten Ortskern. Die Schwerindustrie dominierte seit Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die siebziger Jahre die Minette-Region, den Süden Luxemburgs. Derzeit wird der ehemalige Hochofen von Arcelor-Mittal als Elektrostahlwerk betrieben, natürlich mit einem Bruchteil der ehemaligen Belegschaft. Die Industrieproduktion macht in Luxemburg nur noch etwa 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus und verliert weiter an Bedeutung.
Nicht nur für die Stahlindustrie, auch für die Bau- und Landwirtschaft warb Luxemburg seit den sechziger Jahren Arbeitskräfte in Portugal an. »Die Rekrutierung der Portugiesen wurde von Luxemburgern betrieben und vom Staat organisiert, man wollte die ›guten‹ Migranten aus unserem kulturellen christlichen Okzident nach Luxemburg holen. Die große Frage war, welche Gastarbeiter wollen wir hier in Luxemburg? Man wollte keine Leute aus muslimischen Ländern oder andere Religionsgemeinschaften«, erläutert Guy Reger, Präsident von Amitié Portugal-Luxembourg (APL), dem ältesten portugiesischen Freundschaftsverein.

Dem katholischen Großherzogtum schienen die gläubigen Portugiesen vergleichsweise unkompliziert und, nach Jahrzehnten der klerikalen Salazar-Diktatur, anspruchslos zu sein. Überdies galten sie als fleißig. Vor allem die Einwohner der ärmeren Regionen im Norden Portugals zog es nach Luxemburg. Anfangs kamen etwa 500 pro Jahr, 1970 waren es schon fast 6 000. In Deutschland mag diese Zahl unbedeutend klingen, doch Luxemburg zählte damals gerade einmal 360 000 Einwohner. Fast die Hälfte (46 Prozent) der nunmehr etwa 500 000 Einwohner Luxemburgs sind Ausländer, darunter offiziell 80 000 Portugiesen.
Auf dem Weg in den alten Stadtkern von Differdingen reihen sich portugiesische Bars aneinander. Die gleichförmig schmucklosen Eckkneipen waren früher französisch und tragen noch Namen wie »Café de l’Usine«, »Café du Quai« oder »Café de l’Europe«. Hier scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Das ehemals einzige Kino des Ortes ist nun der »Portugiesische Club«. Nebenan erinnert ein verwitterter, metallener Pferdekopf an vergangene Metzgerkünste. In den Cafés sitzen nur Männer, die Älteren verbringen ihre Zeit auf den Parkbänken. Die Geschäfte stehen leer. Die wohlhabenderen Luxemburger sind von hier weggezogen, in moderne Einfamilienhäuser etwas außerhalb der Stadt. Die Altstadt Differdingens wurde bis vor wenigen Jahren sich selbst und den Portugiesen überlassen. Der liberale Bürgermeister Claude Meisch plant derzeit eine umfassende Modernisierung des Stadtkerns.
Wie leben Luxemburger und Portugiesen hier zusammen? Am Tresen des »Alt Differdingen«, einem der wenigen verbliebenen einheimischen Lokale, gibt man sich tolerant. »Sie sind ein fleißiges Volk, die Portugiesen. Aber sie bleiben meist unter sich, was ja auch normal ist«, meint Marc, der 38jährige Grundschullehrer, der spät am Abend noch vor seinem ersten Bofferding-Bier sitzt. »Man sollte nicht alle in einen Topf werfen, aber viele haben Schwierigkeiten, sich zu integrieren, sie haben es auch nicht immer einfach. Die zweite und die dritte Generation hat weniger Schwierigkeiten, weil sie schon die Sprache sprechen. Wer nicht so viel Bildung mitbringt, orientiert sich an dem, was er kennt: der Familie, den Freunden, das ist normal«, sagt er. »Die Portugiesen sind da. Wir müssen mit ihnen leben«, lallt dazu ungefragt ein Stammgast, der an der Theke lehnt.
Verlässt man den Hauptbahnhof in Luxemburg-Stadt und begibt sich die Avenue de la Liberté entlang in Richtung Innenstadt, kommt man ins Bankenviertel. In Luxemburg boomt der Finanzsektor. Luxemburgische, belgische, französische und deutsche Banker sowie EU-Angestellte aus der Grenzregion gleiten geschäftig telefonierend durch die Bahnhofshalle und lassen sich beim Prestige-Bäcker Oberweis noch ein dreifach verpacktes Croissant auf die Hand geben. Ein paar Junkies tummeln sich auch an der Gare Central. »Hast du mal fünf Euro?« fragen sie. Den Luxemburgern geht es vergleichsweise gut. Mieten und Lebensmittel sind zwar teurer als in Deutschland, doch das Durchschnittseinkommen ist hoch, die Arbeitslosenrate eher gering und die Sozialleistungen sind trotz einer konservativen Regierung bzw. derzeit einer großen Koalition aus christlich-sozialer Volkspartei und Sozialdemokraten ebenfalls nicht schlecht. Die Mindestsicherung liegt bei 1 228,63 Euro, der Mindestlohn bei 1 724,81.

»Solange es den Luxemburgern gut geht und solange sie in einem sicheren Beruf arbeiten oder sich ein Haus leisten können, werden Ausländer als diejenigen angesehen, die unseren hohen Lebensstandard ermöglichen«, bringt Laura Zuccoli das Prinzip Toleranz durch Wohlstand auf den Punkt. Sie ist Präsidentin des luxemburgischen Vereins Association de Soutien aux Travailleurs Immigrés, einer Organisation, die sich um die Stärkung der Rechte von Zuwanderern bemüht. Ressentiments gebe es in Luxemburg eher gegenüber den Pendlern aus der Grenzregion, die täglich aus Trier, Arlon oder Thionville zum Arbeiten kommen. »Die in Luxemburg lebenden und Steuern zahlenden Portugiesen werden akzeptiert, zumal sie ja die Arbeiten machen, die sonst keiner will«, sagt Zuccoli.
Tatsächlich arbeiten viele Portugiesen im Niedriglohnsektor. Stellen im öffentlichen Dienst sind aber zu 90 Prozent den Luxemburgern vorbehalten, bei den Banken sieht es ohne staatliche Reglementierung nicht besser aus. Auch andere Zahlen weisen darauf hin, dass Portugiesen keine gute Stellung in der luxemburgischen Gesellschaft haben. Sie sind häufiger arbeitslos, ein Viertel aller Schulabbrecher sind portugiesische Jugendliche, und auch in Luxemburgs Gefängnissen stellen Portugiesen die relative Mehrheit.
Als Robert Garcia, Abgeordneter der Luxemburger Grünen, während seiner Antrittsrede im Parlament im Oktober 1992 unmittelbar nach seiner Vereidigung ins Portugiesische wechselte und dies damit begründete, es handele sich dabei um die in Luxemburg am zweithäufigsten gesprochene Muttersprache, protestierten konservative Parlamentarier lautstark. Garcias Rede war eine Provokation. Mit der Anerkennung der portugiesischen Sprache, zum Beispiel in Schulen, tun sich die Luxemburger immer noch schwer. »Ihre« Sprache, das Lëtzebuergesch, dient ihnen zur Identifikation. Erst seit 1984 ist Lëtzebuergesch Amtssprache, neben Französisch und Deutsch.

Dass Lëtzebuergesch auch als Rückbesinnung auf reaktionär-nationales Gedankengut gerade in Abgrenzung zu den Frankophonen und Portugiesen begriffen wird, davon zeugen nicht nur zahlreiche Facebook-Gruppen wie »Ech schwätzen just nach Lëtzebuergesch an der Geschäfter« (ich spreche in den Geschäften nur noch luxemburgisch), die viele Fans haben. Auf der Website der populären katholischen Zeitung Luxemburger Wort bloggt Timon Müllenheim: »Wie kann denn Integration funktionieren, wenn die junge Generation Luxemburgisch nur mangelhaft in den Schulen lernt und diese Sprache kaum spricht? Die Schulbusse werden doch heute längst von den fremden Sprachen Französisch und Portugiesisch beherrscht.«
Manuel Bento ist vor 32 Jahren nach Luxemburg gekommen, um als Bauarbeiter tätig zu sein. Einen Vertrag hatte er damals schon in der Tasche. Bento sieht sich selbst als Portugiesen der zweiten Generation. »Im Jahr 1978 war es relativ einfach, Portugal zu verlassen. Also hab’ ich mir gesagt: Ich gehe nach Luxemburg, weil ich hier schon Bekannte und Freunde habe. Als ich angekommen bin, habe ich auf dem Bau gearbeitet, wie viele hier.«
In den neunziger Jahren trat er der Gewerkschaft bei. Das war für ihn selbstverständlich, zumal er bereits in Portugal gewerkschaftlich organisiert war. Nun ist er Vizepräsident der luxemburgischen Salariatskammer, er kandidierte bei den vorigen Europa-Wahlen für die Partei Déi Lénk (Die Linke).
Dass es in Luxemburg neben dem grünen Abgeordneten Felix Braz nur wenige Politiker gibt, die aus einer portugiesischen Familie stammen, erklärt Bento mit der Salazar-Diktatur: »Wenn Sie aus einem Land kommen, das über Jahrzehnte eine Diktatur erlebt hat, dann interessieren Sie sich nicht sonderlich für Politik.« Langsam ändere sich aber in Luxemburg etwas. »Auch die Parteien begreifen mehr und mehr, dass sie die Portugiesen einbinden müssen«, sagt er.
Zumindest in der Luxemburger Medienlandschaft ist die portugiesische Community gut vertreten. Radio Latina entstand als unabhängiger Sender und wurde später von der Mediengruppe Saint-Paul übernommen. Es sendet seit 1992 rund um die Uhr Musik und ein größtenteils portugiesisches Unterhaltungsprogramm. Die Wochenzeitung Contacto ist neben der Fernsehzeitschrift Télécran mit rund 25 000 Exemplaren Luxemburgs auflagenstärkste Wochenzeitung und richtet sich erklärtermaßen an die Portugiesisch sprechende Bevölkerung. »Ziel des Informationsblattes war es, den Portugiesen Luxemburg näher zu bringen, insbesondere seine Geschichte und seine wichtigsten Gesetze«, sagt José Correia, Chefredakteur von Contacto. Die Zeitung wurde anfangs aus Kostengründen in Portugal gedruckt und unterlag von 1970 bis 1974 noch der Zensur. Heute sieht sich Contacto als Medium für die Portugiesen, die in Luxemburg leben.

Im öffentlichen Leben, in der Politik oder auch im Supermarkt und im Café bleiben Luxemburger und Portugiesen eher unter sich. Kann man in Luxemburg von Parallelgesellschaften reden? APL-Präsident Reger sieht darin die Folge einer verfehlten Integrationspolitik. Zu lange habe man die Bedürfnisse der Portugiesen ausgeblendet. Einer kürzlich im Luxemburger Wort publizierten Meinungsumfrage zufolge steht »Einwanderung« zwar nicht oben auf der Sorgenliste der Bevölkerung. Dennoch warnte der sozialistische Arbeitsminister Nicolas Schmit vor kurzem in einem Interview davor, das Thema Migration politisch auszuschlachten. Bald wolle die Regierung Einwanderern per Gesetz 80 Stunden Urlaub garantieren, damit sie Zeit haben, Luxemburgisch zu lernen. Integration wird auch in Luxemburg gern von Sozialdemokraten und Grünen gefordert. APL-Präsident Reger rechnet hingegen fest damit, dass viele der hier ansässigen Portugiesen in 30 Jahren in allen Bereichen des öffentlichen Lebens arbeiten werden. Die große Frage ist für ihn vielmehr, wer wohl die »neuen Migranten« sein werden. Ob man sich wohl eines Tages trauen wird, Menschen mit einem ganz anderen sozialen und kulturellen Hintergrund aufzunehmen?
Vor einem Monat wurde jedenfalls erst mal Einigkeit zelebriert. Der Staatsbesuch des Großherzoglichen Paares in Portugal vom 7. bis 9. September wurde mit Pomp und militärischen Ehren begangen. Anlässlich der Visite verwies der Großherzog auf seine portugiesischen Wurzeln. Während der Nassauer Herzog jederzeit stolz seine Herkunft aus dem Adelsgeschlecht der Braganza-Könige betont, hat die sozial engagierte kubanische Großherzogin Maria Teresa Mestre zwar keinen adligen Hintergrund, ist dafür aber aus dem Hause des kubanischen Diktators Batista.
Zumindest diesen Auftritt in Portugal nutzte der Großherzog dazu, sich in einer rührenden Ansprache zu bedanken, bei »den zahlreichen Portugiesen, die dazu beigetragen haben, ein modernes Luxemburg zu errichten«.