Isaia Sales über Katholizismus und Mafia

»Die Kirche verschweigt, dass die Mafiosi erzkatholisch sind«

Anfang Oktober reiste Papst Benedikt XVI. nach Sizilien. Während eines Treffens mit Jugendlichen in Palermo warnte er vor der Mafia, ihre Machenschaften seien »unvereinbar mit dem Evangelium«. Isaia Sales, Dozent für die Geschichte der organisierten Kriminalität in Neapel, hat das Verhältnis der katholischen Kirche zu den süditalienischen Mafias in den vergangenen 150 Jahren untersucht und kam zu einem anderen Ergebnis.

Sie sagen, der katholische Glaube sei mit den Verbrecherkartellen der Mafia durchaus vereinbar. Inwiefern?
Alle Mafiosi, die sizilianischen ebenso wie die neapolitanischen und kalabrischen Mafiosi, halten sich für gute Katholiken. Sie täuschen ihren Glauben nicht vor, sie meinen es ernst. Wir haben es mit Mafiosi zu tun, die keinen Widerspruch sehen zwischen ihren mörderischen Taten und ihrem Glauben an Gott. Das ist einzigartig, denn die Religion sollte den Mördern wenigstens Schuldgefühle verursachen. Die Mafiosi fühlen sich jedoch im Einklang mit ihrer Kirche.
Sie werfen der katholischen Kirche vor, versagt zu haben.
In den katholischsten Regionen Italiens konnten sich die gefährlichsten und brutalsten kriminellen Organisationen ansiedeln, schon darin zeigt sich das Versagen der katholischen Kirche und dass sich die Friedensbotschaft des Evangeliums nicht durchgesetzt hat. Es lässt sich nicht leugnen, dass Teile der süditalienischen Gesellschaft im Verlauf der Jahrhunderte die katholische Glaubenslehre so interpretierten konnten, dass ihnen ihre kriminellen Taten gerechtfertigt erschienen.
Wie rechtfertigen die Mafiosi etwa ihre Verstöße gegen das Gebot »Du sollst nicht töten«?
Die Mafia versteht sich ebenso wie die Kirche als Ordensgemeinschaft mit eigenen Regeln. Wer die Regeln nicht respektiert, wird bestraft. Die Mafia tötet denjenigen, der gegen die Regeln des Ordens verstoßen hat und deshalb nicht mehr als Person gilt, sondern wie ein Tier getötet werden kann. Historisch betrachtet galt auch in der katholischen Kirche das Prinzip, dass das Böse im Namen des Guten gerechtfertigt sei. In ihrem Kampf gegen die Ungläubigen und während der Kreuzzüge hat die Kirche die Auffassung vertreten, dass Menschen, die keine Christen sind, getötet werden können. Die Tötung des Anderen ist zwar kein Grundprinzip des Christentums, aber das Christentum hat diese Methode angewandt.
Angesichts dessen verwundert es nicht, dass sich die katholische Kirche beim Thema Mafia zurückhält. Was bewog Benedikt XVI. fünf Jahre nach seinem Amtsantritt, nun doch erstmals gegen die Mafia Stellung zu nehmen?
Vor zwei Jahren besuchte der Papst das Marienheiligtum von Pompeji und erwähnte in seiner Ansprache die Camorra mit keinem Wort. Dafür wurde er damals kritisiert. Nun scheint der Druck seitens einiger süditalienischer Bischöfe und der progressiven katholischen Öffentlichkeit zugenommen zu haben. Allerdings hätte man von einem Theologen wie Ratzinger erwarten dürfen, dass er sich in Palermo deutlicher zum kriminellen Missbrauch der katholischen Glaubenslehre äußert.
Wenige Tage vor seiner Sizilienreise empfing der Papst demonstrativ den Präsidenten der Vatikanbank IOR, Ettore Gotti Tedeschi. Die ita­lienische Staatsanwaltschaft wirft dem IOR-Chef vor, gegen das Anti-Geldwäsche-Gesetz verstoßen zu haben, und beschlagnahmte 23 Millionen Euro, die die IOR auf einem italienischen Bankkonto deponiert hatte.
In der Vergangenheit wurde der IOR bereits gerichtlich nachgewiesen, Mafiagelder gewaschen zu haben. Mit Gotti Tedeschi sollte eigentlich eine neue Phase in der Geschichte der Vatikanbank beginnen. Der Papst äußerte sich nicht zu den erneuten Anschuldigungen gegen die IOR. Die Kirche verhält sich so, als ginge sie die Mafia nichts an. Ihre Verlautbarungen gegen die Mafia wären glaubhafter, wenn damit ein Moment der Selbstkritik verbunden wäre.
Wie erklären Sie sich das Verhalten der katholischen Kirche?
Die Kirche verschweigt, dass die Mafiosi in Italien alle erzkatholisch sind. Sie schweigt nicht aus purer Verlegenheit: Wenn die Mafiosi mit einem offiziellen Akt exkommuniziert worden wären, hätte die katholische Kirche mit einem beträchtlichen Teil der süditalienischen Gesellschaft brechen müssen. Das wollte sie nicht. Die Mafias existieren seit knapp zwei Jahrhunderten. Sie konnten zwar gelegentlich zurückgedrängt, aber nie endgültig geschlagen werden. Alle Versuche, sie zu bekämpften, sind gescheitert. Das bedeutet, dass es neben der politischen Verantwortung für dieses Scheitern auch eine kulturelle Unterstützung für die Mafias geben muss. Und zu den kulturellen Wurzeln, die den Mafioso mit seinem gesellschaftlichen Umfeld verbinden, gehört zweifellos der katholische Glaube.
Der Norden Italiens ist auch katholisch. Warum spielt die katholische Kirche nur im Süden des Landes diese besondere Rolle?
Die süditalienische Kirche unterscheidet sich sehr von der Kirche im Norden. In Süditalien hatte der Katholizismus immer eine Monopolstellung, er musste sich nie gegen einen anderen Glauben verteidigen. Im Norden befand sich die katholische Kirche dagegen an der Grenze zur protestantischen Welt. In der Auseinandersetzung haben sich beide Kirchen beeinflusst. Das Konzil von Trient, das als Reaktion auf die protestantische Reform abgehalten wurde, hatte auf die süditalienische Kirche größere Auswirkungen, im Süden hat sich die sogenannte Gegenreforma­tion sehr viel stärker durchgesetzt, vor allem in Bezug auf die äußeren Formen der Glaubensbezeugung. Das zeigt sich im Heiligenkult. Dieser weist eine große Nähe zur politischen Kultur Süditaliens auf: Zur Lösung von Problemen sucht man sich hier wie dort die Unterstützung eines anderen. Die süditalienischen Heiligen sind keine Vorbilder, an denen man sich orientieren kann, man benutzt sie als Schutzpatrone. Der Heilige übernimmt in der süditalienischen Kultur die Rolle des Vermittlers gegenüber Gott. Der katholische Heiligenkult ist also eine Kultur der Vermittlung, nicht der individuellen Verantwortung. Die süditalienische Politik des Klientelismus hat ihren Ursprung in dieser Kultur.
Trotzdem gilt die katholische Kirche heute in Italien als führende Kraft der Anti-Mafia-Bewegung.
Ja. Zum einen hatte die Kirche nach der Auflösung der christdemokratischen Partei Anfang der neunziger Jahre eine größere politische Handlungsfreiheit, sie musste sich nicht mehr mit einer Partei identifizieren, die mit der Mafia die engsten Beziehungen unterhielt. Andererseits ist es der laizistischen Anti-Mafia-Bewegung nicht gelungen, auf diesem politischen Terrain ihre Autonomie zu behaupten. Die Kirche hat einen vakanten Platz besetzt.
Auf Sizilien wurden nach dem Zweiten Weltkrieg unzählige Richter und Staatsanwälte, linke Politiker und Gewerkschafter von der Mafia getötet. Im Mittelpunkt der öffentlichen Erinnerung stehen aber die wenigen von der Mafia ermordeten Priester. In Palermo unterzeichneten Tausende einen Appell zur Seligsprechung des 1993 getöteten Padre Pino Pugliesi.
Die katholische Kirche hat erkannt, dass sie in Hinblick auf die Mafia ein Problem hat, deshalb macht sie aus den Personen, die von der Mafia getötet wurden, Märtyrer, Heilige. Das ist ihre Art, auf ein historisches Versäumnis zu reagieren. Dagegen müsste man von ihr erwarten, dass sie die Katholiken zur Legalität erzieht, denn die Kirche ist eine Institution der öffentlichen Meinungsbildung, ebenso wie der Staat, die Familie oder die Schule. Man muss jedoch leider sagen, dass die Kirche in Süditalien diese Rolle nicht übernommen hat, sie hat über Jahrzehnte hinweg nicht mitgeholfen, die Mafia zu bekämpfen. Sie hat die Mafia nicht als ideologischen Feind betrachtet, ihre Feinde waren die Kommunisten und die sexuelle Befreiung. Wenn die Kirche dieselbe Aufmerksamkeit, die sie der Sexualmoral widmete, dem Kampf gegen die Mafia entgegengebracht hätte, befänden wir uns heute nicht in dieser Situation. Erst wenn die katholische Kirche die Kraft und den Mut besitzt, mit der mafiösen Kultur zu brechen, kann sie sich erhobenen Hauptes an die Spitze der süditalienischen Widerstandsbewegung stellen. Solange nur eine kleine avantgardistische Gruppe den Kampf gegen die Mafia führt, während sich die Mehrheit der Katholiken so verhält, wie sie es auch in der Vergangenheit immer getan hat, also die Mörder in ihrer Glaubensgemeinschaft toleriert, wird der Kampf gegen die Mafia noch lange dauern.
Versucht die Kirche mit ihrem lautstarken ­Gedenken an die Mafia-Opfer vom anhaltenden Schweigen über ihre politische und ökono­mische Verflechtung mit den Mafias abzulenken?
Don Luigi Ciotto, der Begründer der katholischen Anti-Mafia-Organisation Libera, ist eine außergewöhnliche Gestalt. Die von ihm organisierten Gedenkveranstaltungen haben eine große Wirkung erzielt, ich selbst habe mich an ihnen beteiligt. Aber die katholische Anti-Mafia-Bewegung beschäftigt sich sicherlich nicht mit den theologischen und kulturellen Problemen, aus denen sich die Nähe zur mafiösen Kultur ergibt. Es ist zwar erfreulich, dass es in einigen Regionen vorbildliche Priester gibt, aber sie sind in der absoluten Minderheit. Dennoch bin ich froh, dass es sie gibt, und ich wünsche mir, dass es ihnen gelingt, den Rest der Kirche für sich zu gewinnen, dass sie keine Minderheit bleiben, die die Kirche toleriert, weil sie ihr ein reines Gewissen verschafft.