Quincy Jones im Gespräch über Michael Jackson und die ersten Rock’n’Roller der Welt

»Es ging nicht um Geld und Ruhm«

Quincy Jones ist in Jazz- wie Pop-Gefilden gleichermaßen zuhause. Im Interview spricht der 27fache Grammy-Gewinner über seine ­Arbeit mit Michael Jackson, Ehrbezeugungen des musikalischen Nachwuchses und den ersten Rock’n’Roller der Welt.

Quincy Jones hatte stets ein Gespür für lohnende Kooperationen: Der US-Amerikaner arrangierte für Jazz-Legenden wie Duke Ellington, ebnete als TV-Unternehmer Will Smith den Weg in seine Schauspielkarriere und produzierte Michael Jacksons wichtigste Alben. Jetzt zollt der musikalische Nachwuchs ihm seinen Tribut. Künstler wie Amy Winehouse, Akon oder Talib Kweli huldigen auf »Q: Soul Bossa Nos­tra« dem Paten des King of Pop.
Der Regisseur Sidney Lumet, für den Sie oft komponiert haben, sagte einmal: »Quincy sprach mit mir nie darüber, ob es in seiner Kindheit Gewalt gab … Aber Junge, wie hat man sie in seiner Filmmusik gehört!«
Nun, ich bin in der South Side von Chicago aufgewachsen, im größten schwarzen Ghetto Amerikas. Sehen Sie diese Narbe an meinem Knöchel? Als ich sieben Jahre alt war, erwischte mich eine Gang in der falschen Straße. Seitdem trage ich diese Erinnerung an ein Springmesser mit mir herum. Etwas später hat man mir auch mal einen Eispickel in den Kopf gerammt. In Chicago gibt es eine Menge Leute, mit denen nicht zu scherzen ist. Sie wissen ja sicher, was man Jennifer Hudsons Familie, die auch in der South Side lebte, angetan hat. Ihre Mutter, ihr Bruder und ihr Neffe sind ermordet worden. Chicago ist ein hartes Pflaster. Als ich dort aufwuchs, haben die Leute sich Musik gekauft, bevor sie sich um Essen oder Kleidung kümmerten. Musik war, wie man in den USA sagt, ihr »Soul Food«. Das hat aufgehört.
Sie haben einmal behauptet, Lionel Hampton sei der erste Rock’n’Roller gewesen. Den meisten gilt Hampton als Jazzmusiker …
Das lief damals unter dem Titel »Jazz«. Aber Lionel hat der zweiten und vierten Zählzeit wie kein anderer gehuldigt. Das brachte die Leute zum Ausflippen. Ich weiß, wovon ich spreche. Schließlich habe ich drei Jahre in seiner Band Trompete gespielt. Lionel war einer der besten Jazzmusiker aller Zeiten – aber sein oberstes Ziel bestand darin, das Publikum durchdrehen zu lassen. Und was sonst ist Rock’n’Roll?
Viele würden sagen: eine Mischung aus Blues und dem, was man grob als Country &Western bezeichnet.
Um Himmels willen! Umgekehrt wird ein Schuh draus. Ich habe vor Ewigkeiten einmal die Bluegrass-Jungs von Flatt & Scruggs gefragt, was sie sich so anhören. Ihre Antwort war: »Wes Montgomery«. Das überrascht mich auch nicht, weil Jazz die klassische Musik Amerikas ist. Dieses Genre lieferte die Schablone für alles, was danach kam. Ich weiß, dass sogar Jimi Hendrix gern Jazzmusiker gewesen wäre. Als ich 1970 »Gula Matari« aufnahm, wollte er unbedingt mit Miles Davis und mir spielen. Und natürlich haben R&B-Künstler sich vom Jazz inspirieren lassen: Marvin Gaye, Stevie Wonder und selbstverständlich auch Michael Jackson.
Michael Jacksons »Thriller«, das von Ihnen produziert wurde, ist das meistverkaufte ­Album aller Zeiten. Können Sie sich diesen enormen Erfolg erklären?
Die Grundlage sind hervorragende Songs. Ein phantastisches Stück kann einen grauenvollen Sänger in den größten Star verwandeln, aber einen schlechten Song wird auch der beste aller Sänger nicht zum Hit machen. Das habe ich, Gott sei Dank, schon vor 45 Jahren gelernt. Aber natürlich muss auch der Sound stimmen. Ich ziehe da gern den Vergleich zum Film: Wenn der Produzent im Studio gewissermaßen die Rolle des Regisseurs übernimmt, dann fungiert der Toningenieur als Kameramann. Er muss dafür sorgen, dass der musikalische Moment akkurat eingefangen wird. Zum Glück war ich in der Lage, mit einem der besten Tontechniker arbeiten zu können, der je gelebt hat: Bruce Swedien. Ob ich nun in Kairo, Shanghai oder Monte Carlo in einem Club sitze: Noch bevor es zwölf Uhr ist, höre ich mindestens sechs Songs, die ich vor 30 Jahren zusammen mit Bruce aufgenommen habe. Jede gottverdammte Nacht. Das liegt auch am außergewöhnlichen Sound dieser Produktionen.
War es eigentlich schwierig, mit einem Künstler wie Michael Jackson zu arbeiten?
Nein. Auch wenn ich mir manchmal wie sein Erziehungsberechtigter vorkam. Michael war ein Produkt des Systems »Motown«, wo den Künstlern alle wichtigen Entscheidungen abgenommen wurden. Da gab es Hausproduzenten, und die Künstler hatten nichts zu melden. Als Michael später bei Epic unter Vertrag war, fragte er mich, ob ich ihm einen Produzenten vermitteln würde. Ich sagte: »Michael, du hast nicht einmal einen Song.« Ich meine, »Ben«, das einzige romantische Stück, das er bis dahin gesungen hatte, handelte von einer Ratte! Als erstes besorgte ich ihm also »You Can’t Win«.
 … einen Song, den Jackson dann 1978 in Sidney Lumets Film »The Wiz« gesungen hat.
Ja. Und schon vor dem Dreh bemerkte ich, wie hingebungsvoll Michael arbeitete. Er kannte die Dialoge aller Darsteller auswendig und auch sämtliche Songs, die Tanzschritte und so weiter. Irgendwann fiel mir auf, dass Michael während der Proben immer wieder den Namen »Sokrates« falsch betonte – ohne dass ihn selbst nach drei Tagen jemand korrigiert hätte. Als ich ihn darauf aufmerksam machte, fragte er mich mit dem Blick eines Rehs, das in einen Autoscheinwerfer starrt: »Wirklich?« In dem Moment war mir klar, dass wir ein Album aufnehmen mussten. Als er dann 1979 später während der Sessions zu »Off The Wall« die Ballade »She’s Out Of My Life« sang, war das etwas völlig Neues für ihn. Tom Bahler, ein Freund von mir, hatte den Song geschrieben und darin die Trennung von seiner Frau verarbeitet. Michael heulte nach jedem Take. Ich glaube nicht, dass er wirklich wusste, warum er weinte. Aber die Lyrics vermittelten, dass Bahler eine schmerzhafte Zeit durchzustehen hatte. Das ging Michael nahe.
Inwiefern war Jackson damals in die Produktion seiner Alben involviert?
Überhaupt nicht. Michael war vollkommen mit dem Songwriting für die vier von ihm beigesteuerten Stücke beschäftigt. Alles andere lag in meiner Verantwortung. Er hätte zum Beispiel gar nicht gewusst, wie man Künstler auswählt. Es war auch meine Idee, Eddie Van Halen auf »Beat It« spielen zu lassen. Vincent Price steuerte für »Thriller« einen Edgar-Allan-Poe-Rap bei. So etwas hatte vorher noch keiner gemacht. Michael dachte, dass wir einen Dachschaden haben.
Im November erscheint »Q: Soul Bossa Nos­tra«. Was halten Sie davon, wenn junge Musiker Ihre Produktionen neu interpretieren?
Das ist großartig. Ich fühle mich geehrt. Und selbstverständlich weiß ich Künstler wie Amy Winehouse zu schätzen.
Sie haben – auch für Megaseller wie »Thriller« oder »Bad« – immer mit ausgezeichneten Instrumentalisten gearbeitet. Stört es Sie, dass Hits heute oft gänzlich am Computer entstehen?
Ich weiß, wie man einen Hit produziert. Und dafür braucht es nicht unbedingt fabelhafte Musiker. Aber ich werde doch nicht mein gesamtes Handwerk verleugnen, nur weil ich einen Song in die Top-Ten hieven will. Ich habe immer meine Lieblingsmusiker engagiert. Wenn du nur noch des Geldes wegen arbeitest, verlässt Gott den Raum. Ich komme aus einer Tradition, in der es nicht um Geld oder Ruhm ging. Charlie Parker, Duke Ellington, Dizzy Gillespie – diese Musiker haben alle nichts verdient. Zumindest nicht, wenn man sie mit heutigen Stars wie Jay-Z oder Beyoncé vergleicht, die bis zu 150 Millionen Dollar machen. Wir waren im Musikgeschäft, weil wir es liebten. Mittlerweile denken die Künstler ans Geld, bevor sie sich mit der Musik auseinandersetzen. Was dazu führt, dass sie Wodka und Parfum verkaufen – ohne sich dabei seltsam vorzukommen.
»Q: Soul Bossa Nostra« erscheint am 9. November bei Interscope Records.