Nicht jede Stimme zählt

In einer Zeit, da Christdemokraten unermüdlich unter Beweis stellen, dass sie keine ­Ahnung von Geschichte und Theologie des Christentums haben, will Guido Westerwelle nicht zurückstehen. Er muss beweisen, dass deutsche Liberale nicht wissen, was es mit der bürgerlichen Demokratie auf sich hat: »Der Stimmrechtsentzug muss kommen. Wenn jemand seine Pflichten nicht erfüllt, ist es auch nicht fair, dass er seine Rechte weiter wahrnehmen will.« Es geht vorerst nicht um Hartz-IV-Empfänger, sondern um integrationsunwillige Ausländer. Das Problem für Westerwelle ist, dass er ihnen nicht mit neuen Gesetzen beikommen kann. Denn diese Ausländer leben im Ausland. Da fühlen sie sich sicher, und sie verweigern der finanziellen Leitkultur Deutschlands die Gefolgschaft. Die Bundesregierung will »Defizitsündern« das Stimmrecht in der EU entziehen. »Defizitsünder« sind Regierungen, die mehr Schulden machen, als Westerwelle für richtig hält. Zwar beruft man sich hin und wieder auf den europäischen Stabilitätspakt, da die deutsche Staatsverschuldung aber 71 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) beträgt und somit über dem vorgesehenen Maximum von 60 Prozent liegt, müsste Deutschland sich eigentlich selbst das Stimmrecht entziehen.
Da es um die republikanische Tradition in Deutschland nicht gut bestellt ist, muss man ins Ausland schauen, um zu erfahren, was Haushaltspolitik und Demokratie miteinander zu tun haben. Man stellt dann fest, dass ohne den Kampf des integrationsunwilligen Bürgertums für das Recht, über den Haushalt zu entscheiden, die parlamentarische Demokratie nie entstanden wäre. Der Bundestag hat dieses Recht mit der Verabschiedung der »Schuldenbremse«, die die Kreditaufnahme begrenzt, wieder eingeschränkt. Nun wollen die Deutschen auch noch die Finanzpolitik anderer europäischer Staaten lenken und den Vertrag von Lissabon ändern, um Sanktionen gegen die »Sünder« durchzusetzen.
Dass die Idee, ein Land für die demokratische Beschlussfassung seines Parlaments zu bestrafen, in Deutschland auf keine Kritik stößt, überrascht nicht. Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn hingegen bezeichnete die deutschen Pläne als »politisch eigentlich irrsinnig«. Der Vertrag von Lissabon kann nur mit Zustimmung aller Unterzeichnerstaaten geändert werden. Die Staatsverschuldung Luxemburgs beträgt 14,5 Prozent des BIP, die Regierung ist also finanziell nicht erpressbar. Aber auch andere Staaten dürften eine Vertragsänderung ablehnen. Das wirft die Frage auf, ob Westerwelle und Angela Merkel so größenwahnsinnig sind, an die Verwirklichung ihrer Pläne zu glauben, oder ob deren Scheitern dazu dienen soll, den integrationsunwilligen Ausländern die Schuld zu geben, wenn der »Aufschwung« in Deutschland nicht dauerhaft sein sollte.