Die Verhandlungen über »Stuttgart 21«

Auch Bohrer suchen Arbeit

Die Resonanz auf die Proteste gegen »Stuttgart 21« ist groß. Die Frage, ob das Bahnprojekt verkehrspolitisch sinnvoll ist, gerät dabei oft in den Hintergrund.

Hunderttausende sitzen vor dem Fernseher, um die von Heiner Geißler (CDU, Attac) geleiteten Schlichtungsgespräche zu verfolgen. Dass die Gespräche stattfinden, kann man als Ausdruck der Stärke des Protests gegen das Bahnprojekt »Stuttgart 21« werten, schließlich hatten die Befürworter schon vor einiger Zeit für dessen Absegnung durch die Parlamente gesorgt. Auf das Ergebnis darf man gespannt sein, denn eine Halb- oder Dreivierteltieferlegung des Stuttgarter Bahnhofs als Kompromiss wie bei Tarifkonflikten kann es nicht geben, weshalb auch bei der dritten Runde der Schlichtungsgespräche keine Einigung in Sicht war. Immerhin scheinen die Debatten über Trassen, Tunnel und Fahrpläne angenehm sachlich im Vergleich zu einigen Phänomenen, die der Massenprotest hervorbringt.
Nun sind solche Bewegungen stets vielfältig, ein gewisser Anteil an obskurantistischen und rechtslastigen Tendenzen ist vielleicht unvermeidlich. Das gilt in Deutschland für Umweltbewegungen, etwa die Anti-AKW-Bewegung, an der allerlei Altnazis beteiligt waren, die sich ums deutsche Erbgut sorgten, und auch in der historischen Arbeiterbewegung agitierten einige so vehement für Menschenzucht und Sterilisierung von »Minderwertigen«, dass Thilo Sarrazin wie ihr blasser Wiedergänger erscheint. Insofern ist es geboten, auch den Protest gegen die Tieferlegung des Stuttgarter Bahnhofs kritisch zu sichten.

Ob jedoch Linke, die das Thema Ökologie nicht von vornherein ausblenden, sich einmischen sollen, hängt von der Frage ab, ob »Stuttgart 21« das Angebot der Bahn verbessern könnte und wie hoch der Preis dafür ist. Kernstück des Bauprojekts ist die Tieferlegung des Bahnhofs, dafür sollen etwa 120 Kilometer Schienen neu verlegt und 20 Tunnel gegraben werden, damit die Züge Stuttgart unterirdisch durchfahren könnten. Für rund 4,1 Milliarden Euro verspricht die Bahn AG, dass sich die Fahrzeiten um ein paar Minuten verkürzen und die Lärmbelastung für Anwohner sinkt. Wer häufiger mit dem Zug fährt, weiß, dass damit nicht einmal die üblichen Verspätungen ausgeglichen würden. Außerdem erreichten 1995 die Schnellzüge von Stuttgart nach München fahrplangemäß rund 20 Minuten schneller ihr Ziel, als es im Jahr 2010 der Fall war, sagt der linke Verkehrsexperte Winfried Wolf. »Die Bahn fährt auf Verschleiß, das Erste wäre, die bestehenden Strecken zu ertüchtigen.« Es ließen sich einige Minuten Fahrzeit gewinnen, wenn die Strecke auf der Geislinger Steige an manchen Stellen begradigt würde.
Bei der zweiten Schlichtungsrunde erklärte Georg Fundel, Geschäftsführer der Flughafen Stuttgart GmbH, sein Unternehmen erwarte dank kürzerer Fahrzeit vom Hauptbahnhof zum Airport etwa 1,2 Millionen mehr Passagiere. Binnenlogisch betrachtet würde ein Teil dieser Flugzeuge nur von anderen Flughäfen abgezogen, und wer Umweltschutz betreiben wollte, müsste den Transport zu Flughäfen möglichst unattraktiv gestalten, also allenfalls Fuß- und Radwege anlegen.
Während in Stuttgart Milliarden für Tunnel ausgegeben würden, werde der regionale Verkehr in Baden-Württemberg vernachlässigt, argumentieren Kritiker, die von »Kannibalisierung« sprechen. Wolf nennt als Beispiele die Strecke über Ravensburg nach Lindau, deren Elektrifizierung schon seit 50 Jahren geplant sei, eine Ringbahn um den Bodensee oder einen besseren Zulauf und Lärmschutz auf der Rheintalstrecke zum neuen Gotthardtunnel. Nicht nur in Baden-Württemberg wären Einsparungen bei anderen Verkehrsvorhaben die Folge eines Großprojektes. Im benachbarten Bundesland Bayern wird derzeit eine weitere Stammstrecke für die Münchener S-Bahn geplant. Der Freistaat, die von SPD und Grünen regierte Landeshauptstadt und die Bahn AG wollen einen zweiten S-Bahn-Tunnel bauen. Als Preis gibt die Bahn AG 1,6 Milliarden an, am Ende dürfte es wohl erheblich teurer werden. Das Projekt in München geht einher mit Plänen, die schlechtere Takte für einige S-Bahnlinien in der Region vorsehen. Der Ausbau von Gleisstrecken im Umland ruht und die Bahn AG und das Bundesland Bayern bringen die Elektrifizierung der Strecke München-Lindau als weiteren verbesserungswürdigen Zulauf für den Gotthardtunnel nicht voran. Angeblich fehlt das Geld, obwohl die Schweiz rund 55 Millionen Euro vorschießen würde.

Zur Frage, wem solche Projekte nützen, sei auf Immobiliengeschäfte verwiesen, die die Bahn AG mit dem freiwerdenden Gelände in Stuttgart macht. Scheitert »Stuttgart 21«, müsste die Bahn AG allein der Stadt rund 700 Millionen Euro für Grundstücke zurückzahlen, die die Kommune erworben hat, um sie als Bauland im Zentrum zu verwerten. Profitieren würde aber auch die Tunnelbauindustrie. Anlässlich des Durchstichs im neuen Gotthardtunnel zeigten die Medien vor einigen Wochen die gewaltigen Bohrgeräte der Firma Herrenknecht aus Baden. Diese Maschinen werden im Tunnel zerlegt, einige Teile können wohl wiederverwendet werden. Der Preis für eine einzige große Tunnelbohrmaschine liegt nach Angaben von Herrenknecht im »unteren Millionen-Bereich«. Das ist ein hoher Anteil an konstantem Kapital, das ein Unternehmen investiert. Die wenigen Spezialfirmen der Branche sind ganz besonders auf gute Auslastung und Staatsaufträge angewiesen. Der Vorstandsvorsitzende Martin Herrenknecht sitzt im Unterstützerkreis für »Stuttgart 21«. Lothar Späth, früher CDU-Ministerpräsident von Baden-Württemberg, ist Vorsitzender des Aufsichtsrats der Firma. Kritiker sprechen von einer »Spätzle-Connection«.
Der Widerstand gegen solche Projekte ist berechtigt. Ökologische Linke, die an der Protestbewegung beteiligt sind, sollten allerdings auch die Elemente, die an diesem Protest fragwürdig sind, zum Thema machen. So rühmt das Bünd­nis »Kopfbahnhof 21«, das unter anderem von den Grünen, dem Bund für Umwelt und Naturschutz oder der Stiftung Architektur-Forum Baden-Württemberg getragen und von Gewerkschaften und Linkspartei unterstützt wird, den von Paul Bonatz entworfenen Stuttgarter Hauptbahnhof. In einem Appell für den Erhalt des Gebäudes bezeichnete ihn die »Arbeitsgemeinschaft Hauptbahnhof Stuttgart« als »Meisterwerk der Architektur«, ohne die Vergangenheit und den Stil des Architekten zu problematisieren. Bonatz lehnte die architektonische Moderne ab, die Stuttgarter Weißenhof-Siedlung erinnerte ihn 1926 wegen kubischer Formen »eher an eine Vorstadt Jerusalems als an Wohnungen für Stuttgart«. Bonatz favorisierte das Sattel- und Walmdach und deutsches Holz, er baute an Hitlers Reichsautobahnen mit und wurde 1942 von der NSDAP-Gauleitung Württemberg-Hohenzollern für die Verleihung der Goethe-Medaille vorgeschlagen.

Der Stuttgarter Oberbürgermeister Wolfgang Schuster (CDU) versuchte, die Vita des Architekten gegen den Protest gegen »Stuttgart 21« zu instrumentalisieren. Um nicht die Anhänger der eigenen Partei zu verprellen, agierte Schuster jedoch vorsichtig. Auf der Homepage der Stadt, aber auch bei den Gegnern von »Stuttgart 21« findet man nur lobende Worte für den Stararchitekten. Auch ein anderes Argument, das für das Projekt »Stuttgart 21« spricht, wird von seinen Befürwortern schamhaft verschwiegen. Nach dem Zweiten Weltkrieg verunstalteten Kommunalpolitiker und Bauunternehmen das schwäbische Städtchen zu einer »autogerechten Stadt«. Dazu passt der Mercedes-Stern auf dem Bonatz-Bahnhof. Mit einer Tieferlegung bliebe einem zumindest dieser Anblick städtebaulichen Elends erspart.