Ein Besuch in Rachel, der »Stadt der Ufos« im US-Bundesstaat Nevada

»Hier ist alles Alien«

Achtjährige fahren Autos, Schnaps trinkt man aus Pilotenschädeln, und die CIA schaut tatenlos zu. Jedenfalls in Rachel, im US-Bundesstaat Nevada. Außerdem vermeldet der Trailerpark am Rande der Area 51 die meisten Ufo-Sichtungen. Auf diesem Planeten jedenfalls.

»Waren das da eben Einschusslöcher in dem Schild?« Die Fahrerin zieht instinktiv die Schultern ein bisschen höher und fährt ein bisschen schneller. »Bei den beiden letzten war das schon genauso.« Auch meine Stimme klingt etwas rauer als sonst.
Wir fahren auf dem Highway 375 durch Nevada. Vor ungefähr zwei Stunden und 110 Meilen haben wir Las Vegas in Richtung Nordosten verlassen. Der Highway 375 trägt noch einen zweiten Namen: »Extraterrestrial Highway«. Nirgends auf der ganzen Welt werden so viele Ufo-Sichtungen gemeldet wie in diesem Teil der Mojave-Wüste.
Auf der linken Seite beginnen einige Trailer-Homes in der Sonne zu blinken. Sie gehören zu Rachel, dem einzigen Ort zwischen Las Vegas und Tonopah. 98 Einwohner. Und eine Kneipe namens »Little A’Le’Inn«, vor der eine fliegende Untertasse mit gut zwei Metern Durchmesser am Hebekran eines Pickup hängt. »Earthlings Welcome«, grüßt ein Außerirdischer von einem Werbeschild, das daneben steht.
»The more you sweat in peace, the less you bleed in combat«. Der Aufkleber an der Kühlschranktür des Little A’Le’Inn lässt keinen Zweifel daran, dass Pazifisten, Demokraten und ähnliche Pussies hier nicht gern gesehen werden. »Clinton ruined a dress, Obama ruined a country«, steht gleich daneben. Auch das Little A’Le’Inn ist eigentlich nur ein Container. Die Wände sind übersät mit unscharfen Fotos, die angebliche Ufo-Sichtungen dokumentieren. Nicht nur hier in Rachel und Umgebung – aus der ganzen Welt haben Freunde fliegender Untertassen ihre Beweise geschickt. Erstaunlich viele aus der Schweiz sind darunter. Jeder dritte ungefähr. In allen Ecken stehen Tische mit Souvenirs, oder sie hängen gleich an Haken von den Wänden: Alien-Puppen und -Wasserpistolen, Alien-Aschenbecher und -Poster. Natürlich auch Schnapsgläser in Form eines Ufopiloten-Kopfes.
Ungefragt stehen plötzlich zwei Gläser mit Leitungswasser vor uns. Hier weiß man, was die Gäste nach einer Fahrt durch den Staub am dringendsten brauchen. Wir lassen uns die Speisekarte geben. Zwischen all den Waffeln, Sandwiches und anderen Klassikern der hiesigen Imbisskultur wird auch ein »Alien Burger« angeboten.
Auf die Frage, was denn das besondere an dem sei, zuckt der junge Mann hinter dem Tresen mit den Achseln und antwortet: »Gar nichts eigentlich. Hier ist alles Alien.«
Der Mann heißt Claudy und ist 22 Jahre alt. Sobald die Burger vor uns stehen und wir erwähnt haben, aus welchem Land wir kommen, erzählt uns Claudy bereitwillig seine Lebensgeschichte. Seine Großeltern sind Joe und Pat Travis, die 1988 das Little A’Le’Inn gründeten. Vor etlichen Jahren floh seine Mutter Conny aus der Enge von Rachel. Sie zog nach Chino in Südkalifornien, heiratete und bekam Claudy und seinen zwei Jahre jüngeren Bruder Adrian. Leider verlief die Ehe höchst unglücklich. Conny hatte Schwierigkeiten mit Drogen, der Mann war gewalttätig. »Vor sechseinhalb Jahren hatten Adrian und ich genug davon«, sagt Claudy, während er Eiswasser nachschenkt. »Wir haben unseren Vater krankenhausreif geschlagen, unsere Mutter ins Auto gesteckt und sind hierher zurück. Naja, shit happens.«

Rachel wurde in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre im Sand Springs Valley gegründet, wie dieser Teil der Wüste offiziell heißt. Union Carbide entschied sich, eine alte Wolfram-Mine wieder zu eröffnen. Schon zuvor hatten einige Menschen in Trailern gelebt und für einen Agrarunternehmer gearbeitet, der Luzernen anbaute. Als Gründungstag gilt der 22. März 1978, als das Valley an die Elektrizitätsversorgung angeschlossen wurde. Seinen Namen bekam der Trailerpark schon ein Jahr zuvor. Die Bewohner der Ansiedlung beschlossen, ihr Dorf nach dem ersten Kind zu benennen, das hier zur Welt kam. Das war Rachel Jones, die am 15. Februar 1977 im Wohnwagen ihrer Eltern geboren wurde. Die Familie zog bald weg, das Kind starb im Alter von nur drei Jahren. Ihr Name aber blieb. Bis heute feiern die Bewohner am zweiten Sonnabend im Mai den »Rachel Day« mit einer kleinen Parade.
Durch die Mine erlebte Rachel eine kurze Blütezeit, in der es bis auf 500 Einwohner anwuchs. Sich hier anzusiedeln war damals so einfach wie heute: Man kauft ein paar Hektar Wüste und stellt seinen Trailer mitten drauf. Danach lässt man für 3 500 Dollar einen Brunnen graben, legt eine Stromleitung vom Hauptkabel bis an seine Behausung und darf sich ab sofort als Bürger von Rachel fühlen. Dass unter diesen Bedingungen nicht nur Arbeiter mit ihren Familien kamen, liegt auf der Hand. Mindestens ebenso häufig strandeten hier Spieler, die ihre bürgerliche Existenz in Las Vegas verzockt hatten, Menschen, die in anderen Staaten von der Polizei gesucht wurden oder vor der einen oder anderen Vaterschaftsklage flohen.
1988 schloss Union Carbide die Mine erneut. Die Arbeiter gingen, und schon ein Jahr später lebten hier nur noch wenige Dutzend Menschen. Zu verdienen gab es nur noch für ein paar Arbeiter auf den Farmen etwas, und der Rest wartete einfach auf irgendetwas. Die US-Regierung hätte vermutlich nichts dagegen gehabt, wenn der kleine Ort einfach aufgelöst und vergessen worden wäre.

Denn Rachel war und ist die Ansiedlung, die der sagenumwobenen »Area 51« am nächsten liegt, jenem militärischen Testgebiet, in dem neue Kampfflugzeuge der US-Air Force zuerst getestet werden. Den Tarnkappenbomber etwa, der im ersten Golfkrieg unsichtbar für das gegnerische Radar flog, hatten die Einwohner von Rachel schon jahrelang vorher über ihrem Ort kreisen sehen. Manchmal sah man auch, dass sich der Mond für Sekunden verfinsterte oder Sterne verschwanden. Dann nämlich, wenn die Testpiloten Flüge ohne jegliche Beleuchtung übten.
Ufo-Gerüchte gab es ohnehin schon seit vielen Jahren. Ufo-Gläubige auf der ganzen Welt behaupten, dass in der Area 51 das Wrack des Raumschiffs aufgehoben wird, das 1938 bei Roswell abgestürzt sein soll. Die Leiche des Piloten ohnehin. Oder vielleicht lebt er sogar noch und wird dort gefangen gehalten?
Wenn man Einwohner von Rachel fragt, ob sie je ein Ufo gesehen haben, werden die meisten von ihnen ausweichend. »Ja, gerade gestern«, sagen die dreisteren. »Schade, dass Sie gestern noch nicht da waren.«
Die Antwort der realistischeren Bürger geht ungefähr so: »Wir sehen hier fast jeden Tag Ufos. Weil uns ja unbekannt ist, welche Testflugzeuge gerade über der Wüste kreisen.«
Diese verhaltenen Antworten rühren daher, dass Rachel mittlerweile von seiner Ufo-Legende lebt. Allzu offene Antworten würden nur das Geschäft schädigen. Vor gut 20 Jahren, nach der Schließung der Mine, dachte allerdings niemand daran, dass man mit Ufos Geld verdienen könnte. Das änderte sich schlagartig im November 1989. Bob Lazar, ein ehemaliger Arbeiter in der Area 51, erzählte in einer regionalen Talkshow, dass er in Nellis Range, einer Start- und Landebahn mitten im Testgebiet, bei Untersuchungen an einem außerirdischen Flugobjekt mitgearbeitet hatte. Von der Regierung kam kein Dementi. Die Regierung nimmt allerdings äußerst selten Stellung zu Fragen, die die Area 51 betreffen, da nahezu alles dort unter höchste Geheimhaltungsstufe gestellt ist. Für Rachel hätte nichts Besseres geschehen können. Wenige Tage nach der Show erschienen die ersten Ufo-Gläubigen in der Umgebung des Ortes. Bob Lazar lebt bis heute in Rachel. Allerdings zählt auch er zu den Phänomenen, die sich nur dann zeigen, wenn gerade kein Auswärtiger im Ort ist. Auch er ist gerade heute Morgen zum Frühstück im Little A’Le’Inn gewesen und kommt bestimmt heute Abend wieder. Wenn man fragt, wo genau sein Trailer steht, zeigen die Leute am Tresen mit einer schnellen, unbestimmten Geste in eine unbestimmte Richtung: »Da hinten. Aber wartet doch einfach, bis er kommt.« Gäbe es die alten Fernsehaufnahmen nicht, könnte man auf die Idee kommen, dass auch Lazar eine Figur der Ufo-Legende ist, die Rachel sich selbst erfunden hat.

Im Little A’Le’Inn ist mittlerweile ein blonder Mann mittleren Alters mit wachen, nervös wirkenden Augen erschienen. Er setzt sich an den Tresen und lächelt zu uns herüber. Er merkt, in welcher Sprache wir uns unterhalten. »Guten Tag, wie geht es Ihnen?« fragt er auf Deutsch mit schwerem Akzent. »Mein Name ist Ken.« Ungefähr eine Minute gibt Ken uns Zeit, uns selbst vorzustellen und darüber erstaunt zu sein, dass er so gut unsere Sprache spricht. Dann unterbricht er uns und beginnt, jetzt wieder auf Englisch, in rasender Geschwindigkeit von sich zu erzählen. Früher war er mal Musiker. Aber gelernt hat er eigentlich Koch. Auf der ganzen Welt hat er gearbeitet. Für die Hilton-Gruppe. Aber auch hier, ein paar Meilen entfernt. Neulich erst hat er für ein Mittelalter-Festival einen Schwarzbären zubereitet. Den musste er 27 Stunden lang kochen. Aber zwischendurch war er immer wieder Musiker, auch auf der ganzen Welt. Bis eine Suni-Indianer-Schamanin ihm gesagt hat, dass er einen Platz in der Wüste finden soll, um sich niederzulassen. Seitdem lebt er hier. Ken hat ein ausgewachsenes Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, soviel ist klar. Wir fragen, ob er hier schon ein Ufo gesehen hat. Ken lacht und rückt näher an uns heran.
»Ufos sind doch Blödsinn. Aber auf den Hügeln hier sitzen überall Leute von der CIA und hören uns ab. Macht euch keine Sorgen. Ich arbeite mit denen zusammen. Agent 51 heiße ich bei denen.« Zum Beweis zückt Ken einen Kugelschreiber. Als er auf die Spitze drückt, schaltet sich an dessen Spitze eine kleine Leuchte ein und wirft das Signet der CIA auf den Tresen. Ken zwinkert verschwörerisch. »Ihr braucht keine Angst zu haben.« Dass wir so einen Kugelschreiber an einem der Ständer an der Wand auch kaufen könnten, erwähnt Agent 51 nicht.
Später wird Claudy uns erzählen, dass wir damit in die übliche soziale Kontrolle von Rachel einbezogen worden sind. Wann immer ein unbekanntes Auto vor dem Inn steht und nicht binnen einer Zeitspanne verschwindet, die man für einen Burger und eine Cola braucht, schaut ein Einheimischer vorbei. »Das ist okay«, sagt Claudy. »Manchmal schauen hier echte Spinner rein. Neulich kam jemand, der ganz in Alufolie eingewickelt war und auf Befehle seines Kommandanten gewartet hat. Und neulich stand mein Vater in der Tür und wollte nicht mehr gehen. Da war es gut, dass ein Nachbar mit seinem Gewehr vorbeigekommen ist und ihn vertrieben hat.«

Draußen sinkt schon die Sonne. Wir haben uns verplaudert. »Wie weit ist es zur nächsten Stadt, und wann kommen wir an der nächsten Tankstelle vorbei?« frage ich. »Tonopah liegt 110 Meilen von hier«, sagt Claudy. »Und die nächste Tankstelle 60 Meilen. Ich weiß gar nicht, wie lange die abends geöffnet hat.« Wir müssen heute nicht unbedingt weiter. Aber irgendwann mal ins Bett. Ob es es ein Hotel in dieser Metropole gibt? »Ja«, sagt Claudy und zeigt durch ein Fenster in der anderen Richtung. Dort steht ein staubiger Trailer in der Sonne und rostet vor sich hin. »Das Rachel Four Seasons. Zufällig sind heute beide Suiten unbelegt.«
Von innen sieht der Trailer gar nicht so schlecht aus. Zwei kleine Zimmer mit durchgelegenen Betten schmiegen sich von beiden Seiten an ein Kunstwerk aus Vollplastik, das Claudy scherzhaft als »Badezimmer« bezeichnet.
Bevor wir Rachel am nächsten Morgen verlassen, wollen wir noch einen Ort ansehen. Am Rande der Siedlung hängt an einem der wenigen Steinhäuser ein Schild mit der Aufschrift »Senior Center«. Ein Altenheim? Für 98 Einwohner mitten in der Wüste? Wenige Meter neben dem Altenheim steht ein ungefähr vier mal vier Meter großer Blechcontainer mit einem Kreuz. Die Rachel Baptist Church. Als wir an der Tür des Altenheims klopfen, öffnet ein etwa achtjähriger Junge.
»Ich bin Vence«, stellt er sich vor. Ja, er ist der Geschäftsführer dieses Unternehmens. Allerdings ist es kein Altenheim mehr, sondern ein Second-Hand-Laden. »Meine Mutter und ich arbeiten hier zusammen.«
»Na, gibt er wieder an?« Eine drahtige Frau Mitte vierzig schiebt Vence ein Stück beiseite. Pam ist die Mutter von Vence. Sofort fallen uns ihre starken Arme auf. »Vor 20 Jahren war ich eine der ersten Gewichtheberinnen in Nevada. Aber dann habe ich meinen Mann kennen gelernt, und wir sind nach Rachel gezogen.« Das Paar bekam drei Kinder. Eine Tochter, die mittlerweile weggezogen ist, und den Sohn Chance. Chance starb vor mehreren Jahren bei einem Autounfall. Die Familie war schon vorher zerbrochen. »Vence’ Vater und ich haben uns vor 13 Jahren getrennt. Er wohnt dahinten.« Seitdem putzt Pam für ein paar Leute und führt diesen Laden. Vence ist das einzige Kind in Rachel und hat jeden Tag einen Schulweg von zwei Mal 57 Meilen. Der Schulbus fährt nur für ihn in diesen Teil der Wüste.

Plötzlich sieht Pam den fragenden Ausdruck in unseren Gesichtern. »Jetzt fragt ihr euch: Vence ist acht, sein Vater und ich sind seit 13 Jahren getrennt. Wie geht denn das? Naja, es gab da diese eine Nacht, und seitdem trinke ich Coors Light statt Budweiser.« Dann fährt uns Pam zurück zum Little A’Le’Inn. Besser gesagt: Vence fährt uns. Er setzt sich auf den Schoß seiner Mutter, bedient Lenkrad und Schaltung, sie die Pedale. Wahrscheinlich schauen wir schon wieder fragend. »Das machen wir schon so, seitdem er vier ist. Wenn ich ein bisschen zuviel getrunken habe, fährt er uns aus der Bar nach Hause.«
Am Little A’Le’Inn steht schon Ken. Er grüßt, indem er mit seinem Kugelschreiber auf uns zielt. »Langweilig heute. Vielleicht fahre ich gleich noch ein bisschen durch die Gegend und schieße auf Straßenschilder.«