Zensur mit der Eisenstange

Oleg Kaschin hat ein untrügliches Gespür für umstrittene Themen. Seine Karriere begann er bei der Kaliningrader Komsomolskaja Prawda, seit 2003 liefert ihm die russische Hauptstadt mit ihrer vielfältigen und widersprüchlichen politischen Szenerie Stoff für zahlreiche Artikel, die nicht allein durch ihre Treffsicherheit Bekanntheit erlangen, sondern durch den von ihm beschriebenen Personenkreis. Zu seinem Spezialthema in Moskau wurde ein besonderes Phänomen der Ära Putin, nämlich radikale politische Jugendorganisationen.
Insbesondere die Nationalbolschewistische Partei von Eduard Limonow erweckte seine Sympathien. Mitte der nuller Jahre organisierten die jungen Parteiaktivisten etliche spektakuläre Aktionen. Keinem anderen Journalisten vertrauten sie, nur Oleg Kaschin. Aber auch Kreml-nahe Medien publizierten seine Kolumnen, außerdem wetterte Kaschin gegen den ewig verbotenen Gay-Pride.
In den letzten Jahren äußerte er sich auch in der liberalen Tageszeitung Kommersant immer kritischer gegenüber der Regierung, vor allem in seinen Berichten über die Proteste gegen den Bau einer Autobahn durch den Chimiki-Wald bei Moskau. Zum Verhängnis wurde ihm möglicherweise ein Interview mit einem der mutmaßlichen Organisatoren einer Aktion gegen die Stadtverwaltung in Chimki, bei der mehrere Fensterscheiben zu Bruch gingen. Die Junge Garde, der Parteinachwuchs der Partei Einiges Russland, veröffentlichte daraufhin im August ein Foto von Kaschin auf ihrer Webseite und bezeichnete den Journalisten als »Informationssaboteur« und »Volksfeind und Verräter«, dem ein Denkzettel verpasst werden müsse.
Diesen erhielt er vorige Woche in Form eines Mordanschlags. Kurz vor seiner Haustür warteten zwei Männer auf ihn. Auf der Videoaufnahme einer Überwachungskamera ist zu sehen, wie die Unbekannten anderthalb Minuten auf Kaschin mit einer Eisenstange einprügeln. Er wurde mit Schädelverletzungen, Kieferbrüchen, einem gebrochenen Schienbein und übel zugerichteten Fingern ins Krankenhaus eingeliefert und in ein künstliches Koma versetzt.
Spekulationen über die möglichen Täter gibt es mehrere. Zum engeren Kreis der Verdächtigengehören neben dem Bürgermeister von Chimki und den Junggardisten auch der Gouverneur des Pskower Gebietes. Gewaltakte als Formen der Disziplinierung gegen Journalisten und missliebige Aktivisten gehören offensichtlich zum Repe­rtoire einer wachsenden Anzahl politischer Funktionsträger.