Neue Forschungen über Schwarmintelligenz

Das Konzept der Kleingruppen

Wie funktioniert ein Schwarm von Staren? Er entpuppt sich nach neuen Forschungen als ein von lauter lokalen Kleingruppen gespeistes Informationssystem.

Man kann zurzeit vor allem in europäischen Städten wie Rom, London oder Berlin fast jeden Abend ein Schauspiel am Himmel beobachten, das den Begriff »Schwarm« lebendig illustriert. Mit dem schwächer werdenden Tageslicht versammeln sich dann Stare an dafür geeigneten Plätzen. Beginnend mit ein paar hundert Vögeln sammeln sich schnell Tausende und bewegen sich in der Luft wie in Wolkenwellen, mal auf-, mal abfliegend. Dabei dehnt sich der Schwarm in Flugmanövern aus, als wolle er zerfallen, um sich im nächsten Moment wieder zusammenzuziehen.
Besonders spektakulär wird dieses Wellenreiten tausender kleiner schwarzer Vögel, wenn sich dem Schwarm ein Falke nähert, wie es in Berlin um den Alexanderplatz passieren kann. Dann sieht man den größeren Falken in seinem Jagdflug auf den Schwarm zusausen und darin verschwinden, während sich die Starwolken um ihn immer dichter fast zu einer Kugel schließen und den Greifvogel in ihrer Mitte verschwinden lassen. Wenn der Falke dann wieder herauskommt, wirkt er meist leicht verwirrt und ist in der Regel ohne Beute geblieben.

Anschaulicher lässt sich einer der Vorteile der Schwarmbildung im Tierreich kaum darstellen: Dem Falken gelingt es im Gewimmel der Tiere nicht mehr, sich auf einen Einzigen als Angriffziel zu konzentrieren. Er verliert buchstäblich die Übersicht und muss im sich um ihn schließenden Schwarm auch noch befürchten, sich bei Kolli­sionen mit den Vögeln zu verletzen. Der Schwarm bietet also vielen kleineren Vögeln Schutz vor einem größeren Feind, dem der einzelne Star allein hoffnungslos unterlegen wäre. Und das gilt, obwohl die Schwarmstare als fliegende Gesamtheit natürlich viel auffälliger für Feinde sind, als es nur zu wenigen fliegende Vögel wären.
So weit war das ein längst in seiner schützenden Funktion bekanntes Phänomen. Aber woher wissen die Stare, dass sie dem Falken auch noch eine Lektion erteilen können, wenn sie blitzschnell um ihn herum eine innen dann stockdunkle Kugel bilden, und, nicht zuletzt, wie wird dieser Zusammenschluss organisiert? Das sind, auf den kleinsten Nenner gebracht, die Fragen, die die neueren Forschungen um den Begriff der Schwarmintelligenz antreiben. Es ist schon länger klar, dass Schwärme, seien es solche von Vögeln oder Fischen oder große Herden von Landtieren wie Gnus, Leistungen vollbringen können, die einzelne Tiere oder kleinere Gruppen überfordern würden. Trotzdem hatte sich die Verhaltensforschung lange Zeit hauptsächlich auf das Studium von Individuen oder, und das war die Ausnahme, auf das Verhalten von in ­sogenannten Staaten organisierten Tieren wie Ameisen, Bienen oder Termiten konzentriert. Dabei wurden die staatenbildenden Insekten häufig wie ein aus vielen Teilen zusammengesetzter Organismus, als ein »Superorganismus« betrachtet, der in seiner Gesamtheit dann eben doch wie ein »Individuum« agiert und reagiert. Insofern passte auch die »Insektenstaatsforschung« in das alte Bild der Verhaltensstudien.

Dem Schwarm als intelligiblem System wenden sich die Wissenschaften erst seit den neunziger Jahren zu. Und das hat auch technische Gründe. Die Computerwissenschaften waren vorher einfach noch nicht so weit, dass sie Rechenprogramme und Simulationsinstrumentarien zur Verfügung stellen konnten, die es ermöglichen, einen Schwarm von einigen tausend Staren nachvollziehbar darzustellen und dann auf eine Weise zu mathematisieren, die dem Verhalten der Tiere zumindest nahe kommt.
Und so ist es auch kein Wunder, dass es eine Arbeitsgruppe aus Biologen, Physikern und Computerwissenschaftlern um den italienischen Physiker Giorgio Parisi war, die das Verhalten der Schwarmstare im europäischen Forschungsprojekt »Starflag« untersuchte. Ausgehend von vor allem in Rom gemachten Filmbildern vom Schwarmflug der Vögel kam man dadurch zu einigen nur auf den ersten Blick überraschenden Ergebnissen. Was von unten, wenn man darunter steht, aussieht, als sei es nur von einer einzigen Choreographie gestaltet, entpuppte sich als ein von lauter lokalen Kleingruppen gespeistes Informationssystem, wie es sich Kleingruppentheoretiker wie Fürst Kropotkin oder die französischen Tierschwarmdenker Gilles Deleuze und Felix Guattari kaum besser hätten ausdenken können. Die ­Stare hatten – fast möchte man sagen: natürlich – keine zentrale, übergeordnete Koordinations- und Entscheidungsinstanz in ihrem Schwarm. Die einzelnen Vögel hatten immer nur sechs bis sieben andere Vögel sehr genau im Auge. Auf die konzentrierten sie sich und deren Bewegungen folgten sie oder – und das ist wichtig – deren Bewegungen veranlassten sie selbst zum Bewegungs- oder Richtungswechsel. Was wie von einem Dirigenten koordiniert wirkt, ist das Zusammenspiel ultraschneller Selbstorganisation und Informationsübertragung. Grundprinzip der Selbstorganisation sind dabei die sechs oder sieben genau beobachteten Nachbarn, die Wissensübertragung erfolgt über das Verhalten, und die Wissensvielfalt wird schließlich über die große Zahl hergestellt.
So wurde auch die Reaktion auf den Falken nachvollziehbar. Ein paar Stare am Rand des Schwarms bemerken den Feind und teilen es durch Bewegungen oder auch Rufe mit. Sehr schnell verbreitet sich das Wissen um den Feind über die Sechser-Gruppen auf den Schwarm, und was dann zu tun ist, scheint das Ergebnis der langen Erfahrung mit den Gegnern in der Evolution zu sein. Wobei es nach dem Informationsmodell der italienischen Forscher unerheblich ist, ob das Repertoire des Verhaltens nun angeboren oder erworben ist. Der Hauptmecha­nismus der Informationsverbreitung im Star­schwarm ist so oder so die Beobachtung des Nachbarn und die dNachahmung von dessen Bewegungen.
Man könnte über das Starmodell die Formel »Anpassung durch Nachahmung« schreiben. Einer nimmt im Schwarm etwas wahr, verändert sein Verhalten und verbreitet dadurch die Information auch an jene, die die Wahrnehmung weder selbst gemacht haben noch beurteilen können. Damit ist man aber auch am kritischen Punkt dieses Modells angelangt. Bloß durch Nachahmung über den Schwarm verbreitete Informationen enthalten keine Instanz der Kritik- und Korrektur. Das ist bei Staren natürlich überhaupt nicht schlimm, weil die Informationszentren über den ganzen Schwarm verteilt überall liegen können und weil ihre Schwarmbildungen ein jahreszeitlich auf den Herbst und Winter beschränktes Phänomen sind. Zudem ließen sich über den erwähnte Falken hinaus keine weitreichenden Nützlichkeitskalküle finden, die ihr Schwarmverhalten erklären könnten: »Die Vögel wissen, wie man im Schwarm fliegt, und sie sind so einfach gestrickt, dass es ihnen nichts ausmacht, wenn sie immer wieder dasselbe Spiel spielen. Sie müssen es nicht, sie machen es einfach, weil es in ihrer Natur liegt«, beschreibt Andrea Cavagna, einer der Forscher des italienischen Projekts, die Motive der Stare. Ihre Schwarmflüge sind also wesentlich Spiel und machen den Vögeln Spaß.

Damit stehen die Stare etwas außerhalb der Interessen der Wissenschaft an der Schwarmforschung. Deutlich wird das am Untertitel von Peter Millers gerade erschienenem Buch »Die Intelligenz des Schwarmes«. »Was wir von Tieren für unser Leben in einer komplexen Welt lernen können«, verspricht Miller im Untertitel. Das ist tatsächlich nicht zu viel versprochen, wird aber an einem anderen Beispiel als den lustvoll Flugübungen nachgehenden Staren deutlich. Ein Bienenvolk steht jeden Morgen wieder vor dem Problem, einige tausend Sammlerinnen in ein mehrere hundert Quadratkilometer weites Areal auszuschicken, in dem sich manchmal stündlich die Blüten- und Nahrungslage ändert. Wie also wird das organisiert? Miller zeigt dabei sehr schön, dass so ein Bienen-Superorganismus ein Apparat aus einer Menge parallel arbeitender Tiere ist. Andauernd treffen tausende Bienen, jede mit einem beschränkten Erfahrungskreis, unabhängig voneinander Entscheidungen, die zudem andauernd durch Lernen modifiziert werden können. Woraus eine lokale Fexibilität folgt, die den Superorganismus der Bienen zu einem schnell adaptierenden Parallelprozessor macht. Und auf den schnellen Reaktionen gegenüber Umweltveränderungen beruht für Miller die Attraktivität der Schwarm­intelligenz für menschliche Gesellschaften.
Es sind vor allem folgende Punkte, die allen Schwärmen, Insekten, Vögeln, Fischen oder Säugetieren gemeinsam sind: Die Schwärme nutzen lokales Wissen und erhöhen damit die Vielfalt ihrer Informationen. Sie wenden einfache Daumenregeln an, sie interagieren häufig, sie treffen Entscheidungen mit einer Mindestzahl von Stimmen, und sie verhalten sich unberechenbar, um zu verhindern, dass die Gruppe in Routinen erstarrt. Alles Mechanismen, die auf die Nutzung möglichst vieler Informationen hinauslaufen, ohne Minderheitenauffassungen auszuschließen. Das verhindert zwar keine Fehlentscheidungen, macht sie aber leicht korrigierbar, weil Entscheidungen nicht als Gesetze festgeschrieben werden, in denen sie als Routine erstarren. Schwarmintelligenz ist auch ein anderes Wort für die ewige Diskussion im freundlichen Streit. Und damit entschieden auch für die Integration der Kritik in die »Anpassung durch Nachahmung«.