Rückblick auf die Nuller Jahren. Teil 3 einer Serie

Das Jahrzehnt der Gleichgültigkeit

Nichts ging mehr in den Nuller Jahren. Statt die Welt zu verändern, sind wir auf ihre Interpretation zurückgeworfen.

Die Nuller waren genau das: Nuller. Jedes Jahr eine Null, ein Jahrzehnt des Nichts, eine – nach der ursprünglichen Bedeutung der »Null« in der indischen Mathematik – Lücke, Leere. Waren die Nuller gut, waren sie schlecht? Man kann es nicht sagen – sie waren weder positiv noch negativ: die Nuller waren gleichgültig. Das ist auch die erste Signatur dieses Jahrzehnts: Gleichgültigkeit. Eine Gleichgültigkeit der fortschreitenden Weltzerstörung gegenüber, bei der die Menschheit sich selbst beobachtet. Die Nuller – das ist das erste Jahrzehnt unserer Zeit, bei dem eigentlich egal ist, ob es stattfand oder nicht.
»Alles egal!« könnte der Leitspruch dieses Jahrzehnts sein, das übrigens als erstes Jahrzehnt diesen unbeholfenen Namen trägt – »die Nuller«. Ohnehin werden Dekaden in ihrer vermeintlich kalendarischen Relevanz erst mit den Neunzehnhundertzwanzigern benannt – und das waren dann auch gleich die »Goldenen Zwanziger«, die »Roaring Twenties«, nämlich das Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts, in dem Geschichte sukzessive mit der Mode konvergierte, was den Versuch, Geschichte mithilfe der Unterteilung von Jahrzehnten zu erfassen, umso mehr als Ideologie verrät.
Die Fixierung historischer Abschnitte auf jeweils zehn Jahre hat wohl nicht zufällig ihren Anfang mit den Zwanzigern genommen, dem ersten Jahrzehnt, das von Fordismus, Massenkonsum und Kulturindustrie geprägt war: Geschichte in Dekaden einzuteilen bzw. zu unterteilen, kann als eine Standardisierung, ja eine Industrialisierung der Geschichte verstanden werden – nämlich ein fortgesetzter Funktionalismus der abstrakten Zeitordnung im größeren Maßstab (und tatsächlich entstehen zur selben Zeit die pädagogischen, soziologischen oder verhaltensbiologischen Entwicklungstheorien, die das menschliche Leben ebenfalls in Jahrzehnten festlegen, insbesondere in Hinblick auf die biografisch schwer zu definierenden Abschnitte der jungen Jahre: Nun gibt es Teenager und Twens, schließlich, mit sich konsumistisch erweiternder Jugendzeit, die Thirtysomethings etc.).
Zur Selbstverständlichkeit wird diese narrative Struktur von Geschichte in Dekaden seit den Fünfzigern, also mit Beginn der Popkultur. Die Sechziger, die Siebziger, die Achtziger etc. – mit jedem Jahrzehnt wird Sozialgeschichte mehr und mehr in Kulturgeschichte verwandelt, und Kulturgeschichte schließlich in Mode. Und die Mode lebt nach dem natürlichen Prinzip der Jahreszeiten, der Saison: Mode ist die »ewige Wiederkehr des Neuen« (Walter Benjamin), die Aufhebung des Fortschritts in einer Kreisbewegung. Vergangenheit und Zukunft werden von einer sich immer weiter ausdehnenden Gegenwart aufgesogen – bis in den Neunzigern etwas sehr Merkwürdiges passiert: Die Mode bringt nichts Neues mehr, sondern zitiert nur noch. Ein Jahrzehnt der Retrophänomene: Die Neunziger zitieren erst die Siebziger, dann die Sechziger und Fünfziger, sogar die Achtziger – und schließlich zitieren am Ende die Neunziger sich selbst, so dass das darauf folgende Jahrzehnt, die Nuller eben, nur noch als Endlosschleife, als permanentes Echo der Gegenwart erscheint: eine Rückkopplung mit Bandsalat, bis das Kontinuum zerreißt.
Wir erleben den Leerlauf der Signifikanten, in dem sich jede Signifikanz verloren hat: An der Beliebigkeit und Gleichgültigkeit der popkulturellen Phänomene tritt das deutlich hervor. Musikalisch haben die Nuller sozusagen die Neunziger nicht überlebt: Die letzten, im Größenwahn kulminierenden Spektakel des vergangenen Jahrhunderts, Grunge und Techno, sind bloß noch Spielmarken für das offizielle Kultur-Management. Das Schockierende ist nicht mehr provokative Subversion, sondern das Versagen behördlicher Verwaltungspolitik, schließlich das persönliche Schicksal – der Skandalkünstler stirbt an Krebs, die Love Parade endet in einer Massenpanik. Und schon wenige Wochen später spricht niemand mehr davon.
Pop hat sich so weit vergegenwärtigt, dass alles möglich ist, ohne wirklich zu werden. Die Zeiten, in denen Konsumenten als Fans in Massen organisiert waren, sind endgültig vorbei. Wurde in den Achtzigern noch dezidiert das selbstreflexive und historisch-kritische Potenzial des HipHop verteidigt, rangiert heute alles nebeneinander: Gothic mit Schlagerelementen, Anti-Folk, Nazi-Rap, Neo-Prog mit Postrock, Minimal Techno und irgendeine Metal-Variante: Alles kann, nichts muss. Ästhetische Grenzüberschreitungen werden heute wahlweise von Pink und der Blue Man Group definiert.
Hatte die Moderne kritisch einen Sinnverlust diagnostizieren müssen, reagierte die Postmoderne mit affirmativer Sinnüberhöhung, so sind wir heute mit einer paradox sinnvollen Überproduktion von Nonsens konfrontiert. Das Internet ist dafür symptomatisch: Noch vor wenigen Jahren als kollektiver Raum des demokratischen Austauschs propagiert, ist es heute buchstäblich nur noch ein Myspace. Das Netz ist die imperiale Erweiterung der verwalteten Welt. In einer symbolischen Dauerpräsenz verlängert sich die Selbstkontrolle, der die Menschen in der – vermeintlich – realen Welt permanent unterworfen sind. Was im Internet geht oder nicht geht, ist eine Frage der Nutzungsbedingungen. Darin spiegelt sich die allgemeine juristische Verregelung des Menschen, die sich in den Nullern ausweitet: Ein bürokratischer Individualismus lenkt den Menschen durch ein System von Einschluss und Ausschluss; ob es um einen Asylantrag geht, die Krankenversicherung oder eine E-Mail-Adresse – der Zugang wird heute durch Accounts bestimmt, durch Konten. Bei fortschreitender Verwaltung wird die fortschreitende Verwaltung selbst zum Fortschritt: Chip-Karte, die persönliche ID-Nummer, das General-Kennwort etc. – Verwaltung ist Datenverwaltung.
Ohnehin beschränken sich die zivilisatorischen Errungenschaften der vergangenen zehn Jahre auf technologische Verfeinerungen des Spektakels in der verwalteten Welt: HDMI und W-Lan, USB und GPS. In den Nullern gibt es nichts Neues mehr, nur noch neue Versionen, deren Neuheit darin besteht, sich ähnlich zu werden, anzugleichen – das gilt für Computer-Betriebssysteme ebenso wie für Automarken; und nicht zuletzt wird auf dem Gebiet der Kommunikationselektronik versucht, ein Gerät für alles zu entwickeln. Übrigens: Auch hier wird der Fortschritt wieder über technische Verfahren der Verwaltung definiert.
Versionen ersetzen schließlich den Fortschritt. Dass man an irgendwelche Begriffsetiketten ein »2.0« ranhängt, ist nicht bloß Metapher für die gegenwärtige Ideologie: Spätestens seit der so genannten Finanzkrise 2008 geriert sich der Kapitalismus als Relaunch. Die Grundstruktur steht, hier und da gibt es ein paar neue Funktionen, Sicherheitslücken werden geschlossen, Bugs entfernt und insgesamt ist die Grafik ein bisschen besser. – Die Erneuerungslogik in Versionen charakterisiert im Gegeneffekt allerdings die Nuller gleichzeitig als Jahrzehnt des Ver­altens, des Nutzlos-Werdens der häufig sowieso nutzlosen Dinge: Vom alten Fernseher, den man beim Kauf des Flatscreens anrechnen lassen kann, über Wegwerf-Möbel bis zur Abwrackprämie – in den Nullern wurde das Veralten zelebriert, als Recycling: Je kurzlebiger die Dinge wurden, desto emphatischer wurde auf die Nachhaltigkeit verwiesen.
Das Spektakel ist sich selbst zum Gegenstand geworden, redundant: Die Nuller sind das Jahrzehnt, in dem der Kapitalismus sich selbst überlassen ist – das System ist das Subjekt. Was früher eigentlich nur von schlechter Marx-Lektüre behauptet wurde, dass der Mensch durch das System determiniert sei, ist heute weitgehend offizielle Wissenschaftsmeinung, sei’s in der ökonomistischen Variante der Marktgesetze, sei’s in der biologistischen Variante der Genetik und Neurologie. So scheint es, als sei – um die elfte Feuerbachthese von Marx zu paraphrasieren – der Mensch auf die Interpretation der Welt zurückgeworfen; verändern kann er sie nicht mehr, will er sie nicht mehr. Technisch in den Mittelpunkt gerückt, in Sekundenschnelle an jedem Ort der Katastrophe, von 9/11 über den Tsunami Ende 2004 bis zum Erdbeben in Haiti 2010 – doch wir bleiben Zuschauer, beobachten die unermessliche Gewalt mit einem Bystander-Effekt. Und je größer die spontane Aufregung, der situative Schock, desto stärker die dem folgende Gleichgültigkeit den Ereignissen gegenüber, desto größer die Langeweile, die sich einstellt.
Indes: Die grundsätzlichen Lebensverhältnisse für die Menschen auf diesem Planeten haben sich in den vergangenen zehn Jahren nicht verbessert, sondern verschlechtert. Dass überhaupt heute noch ein einziger Mensch hungert, ist aberwitzig brutal – tatsächlich sind es heute mehrere Milliarden Menschen, die dem Elend unmittelbar ausgeliefert sind. Es liegt nahe, Nietzsches Wort vom Nihilismus aufzugreifen: Die Welt ist müde geworden, lebensmüde. Aber auch dieser Müdigkeit begegnen wir gleichgültig. Schlafen können wir in den kommenden Jahren.