Proteste gegen Obamas Steuerpolitik

Verhandeln mit den Geiselnehmern

US-Präsident Barack Obama hat einen Kompromiss mit den Republikanern ausgehandelt, der die unter Bush fortgesetzten Steuererleichterungen für die reichsten Amerikaner verlängert. Die Proteste linker Demokraten sind heftiger denn je.

»Obama soll eine Linie in den Sand ziehen, hier und jetzt. Sofern die Republikaner ihre Blockade aufrechterhalten und die Steuersenkungen auslaufen lassen, soll er der Nation die Wahrheit sagen, nämlich dass er die Erpressungsversuche nicht akzeptiert. Höhere Steuern wären politisch riskant, aber für einen Präsidenten, den die Wähler wegen seiner Ängstlichkeit allmählich nicht mehr ernst nehmen, wäre ein Einlenken ebenso riskant. Es ist Zeit, dass er seinen Wählern das Gegenteil zeigt.« So plädierte der progressive Nationalökonom Paul Krugman Anfang voriger Woche in der New York Times gegen einen Deal mit den Republikanern.
Zwei Tage später bestätigte sich eine politische Faustregel über die Präsidentschaft Barack Obamas: Wenn Krugman etwas vorschlägt, wird das Gegenteil gemacht. Ein Kompromiss mit den Republikanern sei gefunden worden, sagte Obama auf einer hastig einberufenen Pressekonferenz Mitte voriger Woche. Die 2001 und 2003 von Präsident George W. Bush gegen den erbitterten Widerstand der Demokraten durchgesetzten temporären Steuererleichterungen werden um zwei Jahre verlängert. Der Kompromiss umfasst die strittige und von Obama im Wahlkampf wiederholt angeprangerte Senkung des Spitzensteuersatzes für jährliche Einkommen über einer Viertelmillion Dollar von 39 auf 36 Prozent wurde verlängert.

Statt von Erpressung zu sprechen, fand Obama eine anderes Wort für das Verhalten der Repu­blikaner bei den Verhandlungen: »Geiselnahme«. Denn die Republikaner hatten seit Wochen klar­gemacht: Ohne fortdauernde Steuererleichterungen für die Spitzenverdiener wird der Nachlass für die restlichen 98 Prozent der Bevölkerung entfallen. Obendrein drohten sie, im Senat die Finanzierung des Arbeitslosengeldes für zwei Millionen Menschen zu blockieren. »Mit Geiselnehmern verhandelt man nicht«, sagte Obama. »Es sei denn, dies schadet den Geiseln. Es gibt Menschen, die ohne diesen Kompromiss ihr Arbeitslosengeld nicht mehr erhalten würden. Ich erlaube es nicht, dass diesen Menschen geschadet wird.«
Seither protestieren progressive Demokraten innerhalb und außerhalb des Kongresses wie nie zuvor gegen den Präsidenten. »Gottverdammt falsch« und ein Verrat an Obamas eigener Wählerschaft sei diese Kapitulation vor den Republikanern, donnerte der progressive Kommentator Keith Olbermann. Einflussreiche Unterstützer der Demokratischen Partei kündigten an, nicht für die Wiederwahl Obamas im Jahr 2012 zu spenden. Auf den Webseiten, wo die Entrüstung gegen den seit langem als schwach geltenen Präsidenten ohnehin seit Monaten anhält, wird sogar ernsthaft debattiert, ob bei den Vorwahlen ein wirklich progressiver Demokrat, etwa der ehemalige Präsidentschaftskandidat Howard Dean, gegen Obama unterstützt werden solle.
Selbst auf dem in den vergangenen Jahren zum Internetforum der Obama-Unterstützer verkommenen Blog DailyKos liest man harte Kritik am »republikanischen Präsidenten«. Die traditionsreiche Comedy-Show »Saturday Night Live«, die noch 2008 wochenlangen mit Persiflagen auf die damalige Vizepräsidentschaftskandidatin der Republikaner, Sarah Palin, indirekt einen Wahlkampf für Obama betrieben hatte, diagnostizierte beim Präsidenten das Stockholm-Syndrom, die Identifikation der Geisel mit dem Geiselnehmer. Obama übernehme die republikanische Ideologie so weit, dass er, dem von vielen Rechten unterstellt wird, er sei eigentlich kein Amerikaner, langsam selbst daran zweifele, ob er überhaupt in den USA geboren worden sei.

Besonders groß ist die Entrüstung im Kongress, wo die Demokraten noch die Mehrheit haben, bis die im November gewählten Republikaner Anfang kommenden Jahres ihre Sitze einnnehmen. Die Demokraten im Repräsentantenhaus, die bereits einige Tage vor der Verkündung des Kompromisses Erleichterungen bei allen Steuerklassen mit Ausnahme des Höchstsatzes beschlossen hatten, gaben bekannt, dass die Fraktion den von Obama und der republikanischen Kongressführung ausgehandelten Deal ablehne. Fast drei Dutzend demokratische Abgeordnete machten in einem offenen Brief deutlich, dass dies ihr letztes Wort in dieser Sache sei.
Im Senat kritisierten einflussreiche Demokraten wie Charles Schumer, Pat Leahy und Mary Landrieu den Deal als faulen Kompromiss. Der einzige Sozialist im Kongress, Senator Bernie Sanders aus Vermont, hielt am Freitag voriger Woche eine flammende und ausdauernde Rede, auf die sogar Fidel Castro stolz gewesen wäre. Mehr als acht Stunden lang kritisierte Sanders alle Facetten des Kompromisses. Er prangerte die »Kriminellen der Wall Street« und die Superreichen als Verursacher und nunmehr Nutznießer der Rezession an: »Die amerikanische Wirtschaft hat sich zum Alptraum für viele Millionen Familien entwickelt. Wir sehen den Kollaps der Mittelklasse. Und mit dieser Übereinkunft werden wir Millionären und Milliardären enorme Steuererleichterungen gewähren. Das ist verrückt.«
Obwohl es wohl seit den dreißiger Jahren kaum so viel Klassenkampf im Senat gab wie in Sanders’ Rede, räumen Analytiker den linken Demokraten kaum Chancen ein, den Kompromiss zu blockieren. Denn die politischen Verhältnisse in Washington haben sich seit den hohen Verlusten der Demokraten bei den Kongresswahlen Anfang November geändert, und die Regierung will sich darauf einstellen. Ab Januar muss der Präsident mit einer republikanischen Mehrheit im Repräsentantenhaus auskommen, wenn er überhaupt etwas im Kongress erreichen will.
Im Senat werden die Republikaner weiterhin in der Minderheit sein, dennoch können sie mühelos alle Gesetzesvorschläge blockieren, weil fast alle Vorlagen nur mit einer Mehrheit von 60 Prozent der Stimmen verabschiedet werden können. Deshalb, so argumentieren die demokratischen Unterstützer Obamas, müsse der Präsident fortan eine Mehrheit in der politischen Mitte des Kongresses finden, d.h. bei moderaten Politikern beider Parteien, auch wenn dies die progressiven Demokraten verärgere.

Um für eine solche Politik zu werben, präsentierte Obama den ehemaligen Präsidenten Bill Clinton bei einer Pressekonferenz. Clinton dozierte dann eine halbe Stunde lang darüber, wie gut die Methode der »Triangulation« für ihn in den neunziger Jahren funktioniert habe. In diesem Modell steht der Präsident über dem Frak­tionen der beiden Parteien und bedient sich der »vernünftigen« Ideen der Rechten wie der Linken.
Robert Reich, der unter Clinton Arbeitsminister war, widersprach der Analogie. Die wirtschaft­liche Situation der USA im Jahr 1994, als die Republikaner nach den ersten zwei Jahren der Regierungszeit Clintons die Mehrheit im Kongress gewonnen hatten, sei nicht mit der derzeitigen »Großen Rezession« vergleichbar. Überdies sei die republikanische Strategie, die Regierung durch die Drosselung der Staatseinnahmen zu lähmen, damals genauso falsch gewesen, wie sie es heute ist. Er rät den Demokraten, sich wieder auf ihre Prinzipien zu besinnen und »die Macht der Reichsten unter uns« zu beschränken.