Berichtet aus einer Brennpunktschule

Von Bushido lernen

Jedes Mal wenn eine Pisa-Studie veröffentlicht wird, ist das Jammern groß. Doch durch ständiges Prüfen lernt kein Schüler aus einem »bildungsfernen Haushalt« das Lesen. Ein kleiner Bericht aus einer sogenannten Brennpunktschule.

»It gives children she no money have.« Diesen schönen Satz schrieb gerade einer meiner Schüler in einem Text über Kinderarbeit. Ich war baff: Der kann ja im zehnten Schuljahr immer noch kein Englisch. I think I spider!
Wie froh bin ich da, dass die Englischkenntnisse noch nicht in der Pisa-Studie getestet wurden. Bisher geht es hauptsächlich um die Naturwissenschaften und vor allem um die Lesekompetenz der Schüler. Einig sind sich die Experten vor allem darin, dass man seine Lesekompetenz durchs Lesen verbessert. Kaum anzuzweifeln ist auch, dass in Deutschland immer noch die soziale Herkunft entscheidend für den Bildungserfolg der Schüler ist.

Vereinfacht sieht das dann so aus: Mädchen lesen mehr als Jungen. Kinder aus »bildungsfernen Haushalten« lesen schlechter als diejenigen aus »bildungsnahen Haushalten«. Schüler mit Migra­tionshintergrund haben die geringste Lesekompetenz. Die absoluten Verlierer der Pisa-Studie sind demnach Jungen, deren Eltern oder Großeltern irgendwann nach Deutschland eingewandert sind und die von Transferleistungen leben.
Seit Jahren unterrichte ich solche Schüler an einer sogenannten Brennpunktschule, die Ergebnisse der Studie klingen einleuchtend. Diese Erkenntnis konnte man allerdings schon nach der vorangegangenen Pisa-Studie haben. Richtig viel hat sich offenbar nicht verbessert. Im internationalen Ranking einige Plätze nach oben zu rutschen, kann wohl kaum als durchschlagender Erfolg gefeiert werden. Genügend Lehrer einzustellen und die Zahl der Schüler pro Klasse zu senken, wäre eher hilfreich dabei, jeden einzelnen Schüler auf die bestmögliche Weise zu fördern. Das ständige Prüfen bleibt wirkungslos. Man nimmt schließlich auch nicht ab, nur weil man sich jeden Tag auf die Waage stellt.
Lesen gehört nicht gerade zu den Lieblingsbeschäftigungen meiner Schüler. Manchmal frage ich: »Ahmet, hast du eigentlich schon mal ein Buch gelesen?« – »Ich? Ein Buch? Niemals!« Oder: »Erol, wie ist es mit dir, schon mal ein Buch gelesen?« – »Nein. Ich lese keine Bücher. Lesen ist was für Schwule.«
Die Mädchen sind ein wenig anders. In meiner Klasse verschlang die Hälfte von ihnen begeistert »Wüstenblume« von Waris Dirie und »Arabboy« von Güner Balci. Esra erzählte mir, dass sie an einem Wochenende 100 Seiten in der Autobiographie von Seyran Ates gelesen habe. »Den ganzen Nachmittag habe ich nur gelesen. Meine Mutter kam rein und hat gefragt: ›Was machst du?‹ Und ich habe gesagt: ›Ich lese.‹ Meint sie: ›Warum liest du?‹«

Immer wieder beklagen die Kollegen, dass die Schüler einfach nicht lesen. Sie reiten aber auch nicht, und sie fahren auch nicht Wasserski. Hätten die Familien Pferde, würden sie wahrscheinlich reiten. Hätten die Familien Bücher, würden sie wahrscheinlich lesen. Sie lesen nicht, weil zu Hause niemand liest.
Gibt man den Schülern Bücher, die sie interessieren, dann lesen sie auch. Ich habe sogar Erol einmal mit einem Buch erwischt. Überrascht habe ich ihn gefragt: »Erol, was ist das? Du liest. Ich dachte, Lesen sei was für Schwule.« – »Ja, aber das hier ist kein richtiges Buch. Das ist die Biographie von Bushido. Das ist irgendwie anders.«
Statt zu jammern, könnte man sich also auch einfach überlegen, was diese Schüler interessieren könnte. Bringe ich ein Buch in die Schule mit und mache es besonders Erol, Esra oder Ahmet schmackhaft, läuft die Sache meist von allein. »Ich will das auch lesen. Erol, beeil’ dich, bring mir das Buch morgen mit!« heißt es dann. Bisher habe ich noch keines der ausgeliehenen Bücher zurückbekommen. Sie wandern durch die Kinderzimmer meiner Schüler, und dort sind sie ganz gut aufgehoben.