Über die soziale Revolte in Tunesien

Nicht nur eine Brotrevolte

In Tunesien und Algerien eskalieren die sozialen Proteste. Dabei geht es sich nicht allein um materielle Bedürfnisse. Die zumeist jungen Menschen, die auf die Straßen gehen, protestieren gegen die Perspektivlosigkeit ihrer Generation. Die Polizei reagiert mit Gewalt. In beiden Ländern gab es bereits mehrere Tote.

In Tunesien, wo nahezu sämtliche Medien zensiert werden, zeigt sich derzeit, wie wichtig moderne Informations- und Kommunikationstechnologien für kollektives soziales Handeln sind. Ohne das Internet wäre eine Protestbewegung eines solchen Ausmaßes, wie sie sich in den vergangenen drei Wochen in Tunesien formiert hat, nicht denkbar gewesen. Vor allem Facebook war ein wichtiges Mittel, sich zu gemeinsamen Aktionen wie Streiks, Demonstrationen und Besetzungen zu verabreden.
Eine vergleichbare Revolte hat das Land seit dem Generalstreik in den Jahren 1977/78 und den »Brotreolten« von 1984 nicht mehr erlebt. Auslöser war diesmal der Selbstmord eines jungen Straßenhändlers. Am 17. Dezember übergoss sich der 26jährige Mohammed Bouazizi in der zentral­tunesischen Stadt Sidi Bouzid mit Terpentin und zündete sich an. Vorausgegangen waren zahlreiche Schikanen durch die örtliche Polizei. Zuletzt hatte eine Polizistin den jungen Mann, einen Hochschulabsolventen, der seinen Lebensunterhalt mit »illegalem« Gemüseverkauf auf dem Markt bestreiten musste, angespuckt. Bouazizi wollte sich auf dem Polizeipräsidium beschweren, wo man ihn wegschickte. Daraufhin beging er vor den Türen des Gebäudes seine Verzweiflungstat, am Dienstag voriger Woche starb er an deren Folgen.
Mohamed Bouazizi war nicht allein Opfer polizeilicher Schikanen. Deshalb wurde er schnell zum Symbol einer »verlorenen Generation«, einer gut ausgebildeten Jugend mit Schul- und oft Hochschulabschluss, die keine Chancen auf einen halbwegs erträglichen Job hat. In den korrupten Strukturen Tunesiens sind qualifizierte Stellen heute nur dank familiärer Beziehungen und aufgrund persönlicher Loyalitäts- und Abhängigkeitsverhältnisse zu bekommen. Hochqualifizierte junge Leute, die nicht über solche Beziehungen verfügen, werden von den Machthabern als Gefahr empfunden. Zudem verfolgt Tunesien ein Modell wirtschaftlicher Entwicklung, das von der äußeren Nachfrage vor allem aus der EU stark abhängig ist. Für das Wirtschaftswachstum sorgen der Dienstleistungssektor, vor allem der Tourismus, und die Zulieferindustrien, die aus Europa ausgelagert werden. Dazu zählen die Textil- und die Automobilindustrie. Solche Branchen verlangen überwiegend nach gering qualifizierten Arbeitskräften. Hingegen hat das tunesische Schul- und Hochschulwesen beispielsweise viele Hotelfachkräfte ausgebildet, die jedoch oftmals keine Arbeitsplätze finden, weil der Tourismussektor überwiegend im Besitz einflussreicher Familien ist.
In Marokko, wo auch in den offiziellen Statistiken die Erwerbslosenrate mit dem Bildungsniveau steigt, gibt es seit zehn Jahren eine organisierte Bewegung der diplômés chômeurs, der Arbeitslosen mit Hochschulabschluss. Dagegen konnte das Elend dieser Generation im Polizeistaat Tunesien, wo fast jede politische oder soziale Lebensregung erstickt wird, bislang keinen solchen Ausdruck finden.
Umso heftiger fiel nun die Revolte aus. Dass sie vom Landesinneren ausging, das gegenüber den etwas besser gestellten Küstenregionen von der Politik systematisch vernachlässigt wird, ist nicht erstaunlich. In Sidi Bouzid liegt die Arbeitslosigkeit bei 48 Prozent, bei der jüngeren Generation sogar bei 60 Prozent.

Bereits wenige Stunden nach Bouazizis Selbstmordversuch versammelten sich zahlreiche junge Menschen in Sidi Bouzid auf den Straßen und öffentlichen Plätzen. Der Protest breitete sich schnell aus, und in den darauffolgenden Tagen gingen die Niederlassung der regierenden Demokratischen Verfassungspartei (RCD) sowie Autoreifen und ein Polizeiauto in Flammen auf. Polizisten wurden mit Steinen beworfen. Die sonst übliche Angst vor den »Sicherheitskräften« wich der Wut. Am Wochenende des 25. und 26. Dezember erreichte die Revolte die Hauptstadt Tunis, wo erste Demonstrationen stattfanden. In der ersten Januarwoche, nach Ende der Schulferien, weitete sich der Protest aus.
Die Antwort des Regimes fiel klassisch repressiv aus. Nachdem der Einsatz der Polizeikräfte aus der Sicht der Diktatur nicht die gewünschte Wirkung erzielt hatte, wurden am vergangenen Wochenende in Thala, rund 250 Kilometer südwestlich der Hauptstadt Tunis, erstmals auch Soldaten gegen die Demonstranten eingesetzt. Die Stadt wurde förmlich umzingelt.
Am Dienstag sprach die Fédération internationale des droits de l’homme, die internationale Vereinigung der Menschnerechte, von mindestens 35 Toten. Die tunesische Opposition ihrerseits spricht von über 50 Todesopfern, ein Großteil von ihnen sei durch Schüsse in Thala und Kasserine getötet worden. Scharfschützen hätten von den Dächern aus auf Demonstranten und »Randalierer« geschossen. Unterdessen wurde in Kasserine zu einem Streik der Arbeiter in der örtlichen Zellulosefabrik aufgerufen.
Die tunesische Regierung spricht in einer offiziellen Bilanz von bislang 14 Toten und rechtfertigt den Waffeneinsatz. Dieser sei angeblich »in Notwehr« erfolgt, es seien auch mehrere Polizisten verletzt worden, drei von ihnen schwer.
Nur spärlich dringen die Informationen aus Thala und anderen Zentren der Protestbewegung, die einer rigiden Nachrichtensperre unterworfen sind und in denen weder tunesische noch ausländische Journalisten ungehindert arbeiten können. Umso wichtiger wurde dadurch das Internet. Doch auch dieses ist längst zum Kampfschauplatz geworden. Das Regime versucht, die Akteure im politischen »Cyberwar« auf ganz handgreifliche Weise unter ihre Kontrolle zu bringen. Seit dem 6. Januar werden immer mehr Bloggern verhaftet – es gibt 900 von ihnen in Tunesien, von denen ein gutes Drittel regelmäßig schreibt. Auch drei Mitglieder des tunesischen Ablegers der Piratenpartei wurden festgenommen: Slim Amamou, Azyz Amami und Sla Eddine Kchouk. Zwei von ihnen wurden am Sonntag wieder freigelassen. Von Azyz Amami fehlte hingegen bis Redaktionsschluss jegliche Nachricht.

Die Regierung glaubt, durch diese Welle von Festnahmen endlich »Ammar 404« enthauptet zu haben. So nennt sich die Netzbewegung der Regimekritiker, unter Anspielung auf die Fehlermeldung »Ammar 404« – auf Englisch »error 404« –, die in Tunesien regelmäßig auf den Bildschirmen erscheint, sobald man auf eine dem Regime politisch unliebsame Webseite zu gelangen versucht. Unterdessen wurde auch bekannt, dass der mit Abstand meistgenutzte Provider in Tunesien mutmaßlich die Passwörter von Benutzern »schluckt«. Die Agence d’Internet Tunisienne (AIT) soll auf diese Weise die Zugangscodes zu Diensten wie Yahoo, Google und Facebook Außenstehenden, etwa auch Polizei oder Nachrichtendiensten, zugänglich machen. Die Providerfirma AIT gehörte bis September 2010 Cyrine Mabrouk, einer Tochter von Präsident Ben Ali.
In einem Land, in dem ein Prozent der Bevölkerung – ein Rekordwert – bei den Sicherheitskräften beschäftigt ist, konnte bislang noch jede organisierte politische Opposition erstickt werden. Die Revolte der vergangenen Wochen hat die Situation geändert. Dass viele Anwälte und andere Freiberufler sich der Bewegung anschlossen, weil sie glauben, sie erlaube die Durchsetzung grundlegender politischer Freiheiten, ist ein wichtiges Signal für die Zukunft.

Auch die Regierungen der übrigen Maghreb-Staaten haben Angst vor sozialen Revolten. In Marokko wurden vorsorglich mehrere Solidaritätskundgebungen für die tunesische Jugend, die in Rabat und Casablanca geplant waren, verboten. Unterdessen rief in Algerien die unabhängige Gewerkschaft der Staatsbediensteten (Snapap) für Donnerstag zu Solidaritätskundgebungen für die tunesische Protestbewegung auf. Diese Initiative wurde jedoch von einer eigenen Rebellion der alge­rischen Jugend überrollt. Seit Dienstag voriger Woche brannte es zunächst in Bab el-Oued, einem ärmeren Stadtteil der Hauptstadt Algier, dann auch in der westalgerischen Metropole Oran und in mehreren Städten im Nordosten des Landes. Am Wochenende waren fünf Todesopfer infolge von Zusammenstößen mit der Polizei zu beklagen, in Msila, Annaba, Boumerdès und Tipaza. 1 100 Personen wurden wegen Verwüstung und Plünderung festgenommen. Vielerorts wurden Staatssymbole, darunter auch 40 Schulen, angegriffen.
Der Protest in Algerien wurde durch die Erhöhung der Preise für Grundnahrungsmittel, vor allem Speiseöl und Zucker, ausgelöst. Die Erhöhung ist unter anderem auf internationale Preisschwankungen infolge von Spekulationen und auf die starke Importabhängigkeit Algeriens bei fast allen Gütern zurückzuführen. Wegen der Proteste beschloss die algerische Regierung am Samstag, die Importsteuern und die Abgabe auf die betroffenen Grundbedarfsgüter um 41 Prozent zu senken, in der Hoffnung, so eine Senkung der Preise herbeiführen zu können. Aber die Revolte der Jugend geht längst über den Protest gegen die Preiserhöhungen für diese Nahrungsmittel hinaus.