Solidarität für Tunesien aus Berlin

»Die ganze Regierung muss raus!«

Die Solidaritätskundgebungen für den Aufstand in Tunesien sind in Deutschland eher leise ausgefallen. So auch am Samstag in Berlin.

Etwa 300 Personen haben sich vor der tunesischen Botschaft in Berlin-Charlottenburg eingefunden. Vor dem Gebäude hat eine Kette von Bereitschaftspolizisten Stellung bezogen und beäugt die zumeist arabisch aussehenden Demonstranten misstrauisch. Diese stehen in zwei deutlich getrennten Blöcken, Frauen links, Männer rechts, vor der Polizeikette. Viele tragen tunesische Flaggen, auch eine kleine syrische mit Goldborten ist dabei, die größte Flagge aber ist eine gigantische Palästinafahne. Vor der Menge stehen ein paar Vorsprecher mit Megafon und einer kleinen Lautsprecherbox. Parolen gegen den gestürzten tunesischen Präsidenten Ben Ali werden gerufen, immer gefolgt von dem Ruf »Allahu akbar«, den etwa ein Dutzend Bärtiger in der vordersten Reihe des Männerblocks mit außerordentlicher Hingabe skandieren. Die Frauen tragen überwiegend Hijab.
Auf den ersten Blick sieht die Kundgebung wie eine durch und durch islamistische Veranstaltung aus. Doch dieses Bild bestätigt sich nicht, wenn man mit den Demonstranten ins Gespräch kommt. Der Hotelfachmann Parigiano Armani ist etwa Mitte Zwanzig und hat die Proteste zusammen mit tunesischen und anderen arabischen Vereinen über Facebook organisiert. Besonders engagiert seien die Palästinenser gewesen, sagt er. Armanis Vater ist Tunesier, seine Mutter ist aus Italien, er selbst ist in Hamburg geboren und spricht mit einem hörbaren italienischen Akzent. Freude und Stolz sind ihm aufs Gesicht geschrieben: Freude über die Revolution in Tunesien und Stolz auf seine gelungene Spontandemonstration vor der Botschaft. »Mit so vielen Leuten hätte ich nicht gerechnet.«
Protesterfahrung hat Armani, der sich als Sozialist bezeichnet, schon in Italien gegen Berlusconi und in Frankreich gegen die geplante Rentenreform gesammelt. Vorgestern habe er dann beschlossen, eine Demonstration vor der Botschaft anzumelden. Dass der Diktator Ben Ali das Land verlassen hat, reicht ihm nicht. »Das ganze Land muss sauber gemacht werden, die ganze Regierung muss raus.« In der Botschaft, erklärt Armani, sitze noch das Personal Ben Alis und fotografiere die Demonstranten.

Dann kommt Armanis Mutter, Zoé Mologni, hinzu. »Der 14. Januar wird in Zukunft ein Nationalfeiertag in Tunesien sein, wie in Frankreich der Jahrestag des Sturms auf die Bastille«, sagt sie. Sie hat fünf Jahre lang als Reiseleiterin für Neckermann in Tunesien gearbeitet. Tourismus sei ein Teil des Problems, die Besitzer der Hotels gehörten zu den korrupten Eliten. Die einheimischen Angestellten würden kaum genug zum Leben verdienen und dürften sich nicht gewerkschaftlich organisieren. Als ausländischer Reiseleiter sei man verpflichtet gewesen, den Touristen nichts über die politische Situation im Land zu erzählen.
Frau Mologni steht mit Freunden in Tunesien über Facebook und Twitter in Kontakt. Da habe sie auch gehört, dass in der Nacht zuvor Zivilpolizisten aus Autos heraus auf Menschen geschossen hätten, um Angst und Schrecken zu verbreiten und den militärischen Ausnahmezustand zu rechtfertigen. »Das Volk will keinen Minister von der alten Regierung, es will auch nicht die Armee – das ist eine Volksrevolution.« Die Bevölkerung wolle eine demokratische Wahl, bei der alle Nationalitäten und Religionen berücksichtigt werden. »Wir wollen uns keine Islamisten ins Land holen.« Viele Linke seien im Ausland, in Frankreich, Belgien und Kanada. Viele säßen auch in Tunesien noch im Gefängnis, als angebliche Islamisten, obwohl jeder wisse, dass sie in Wahrheit Linke oder Gewerkschafter seien.
Auch Salhi von der Organisation SOS Tunesien hat geholfen, die Demonstration zu organisieren. Der 40jährige Tunesier lebt seit 20 Jahren in Deutschland. Er hat zwar ein wenig Angst, dass die Situation noch eskalieren könnte, ist aber zuversichtlich. Er habe bislang auch keine Islamisten wahrnehmen können, sie spielten keine Rolle bei den Protesten in Tunesien. Die »Allahu Akbar«-Rufe bei der Kundgebung seien wohl eine Art arabische Marotte.