Der Spitzelskandal in der britischen Linken weitet sich aus

Her mit den kleinen Engländerinnen!

Ein britischer verdeckter Ermittler hat über Jahre hinweg Linke in Großbritannien und anderen europäischen Ländern ausspioniert. Die britische Polizei verspricht nun eine »Säuberung« in der Undercover-Arbeit.

Der Skandal um den Spitzel in der britischen Linken weitet sich immer mehr aus. Inzwischen sind vier Beamte enttarnt worden, die über ­Jahre in linken Netzwerken verkehrten, nicht nur in Großbritannien, sondern auch in anderen europäischen Ländern, unter anderem in Deutschland. In Deutschland soll der Brite Mark Kennedy auf Einladung der deutschen Behörden unterwegs gewesen sein und auch Straftaten begangen haben, wie der Sprecher des Bundeskriminal­amtes (BKA), Jörg Ziercke, vergangene Woche dem Innenausschuss des Bundestags mitteilte.
Zunächst hatte die Partei »Die Linke« im Bundestag Kennedys Einsatz beim G8-Gipfel in Heiligendamm 2007 thematisiert. In einer kleinen Anfrage an die Bundesregierung wollte Andrej Hunko wissen, ob die Behörden vom Einsatz britischer Polizisten auf deutschem Boden wussten. Das Innenministerium verwies auf »einsatztaktische Erwägungen«.

Derweil weitet sich der Skandal in Großbritannien aus. Die Frauen, die vergangene Woche die Zugänge zur Zentrale der Londoner Metropolitan Police blockierten, protestierten mit Humor gegen die Arbeit von Undercover-Agenten. Sprüche wie »Lass den Schlagstock in der Hose« oder »Ich dachte, die Handschellen seien für das Bett« standen auf ihren Plakaten. In den vergangenen Wochen war bekannt geworden, dass drei männliche Polizeispitzel während ihrer Arbeit in den linken Protestbewegungen langjährige Beziehungen mit Frauen aus linken Gruppen eingegangen waren. Einer der Beamten heiratete sogar eine Linke. Das Paar hat zwei Kinder.
Die britische Polizei bezeichnete die sexuellen Beziehungen als »unautorisierte Vorgänge«. Die Anzahl der »Vorgänge« lässt diese Aussage unglaubhaft erscheinen, auch die betroffenen Spitzel widersprechen. Einer der Beamten sagte, sexuelle Beziehungen seien von den Vorgesetzten toleriert worden. Solche Beziehungen seien unerlässlich, um sich in den linken Kreisen Vertrauen zu erschleichen. Ein anderer Spitzel sagte, er habe täglich mit seinen Vorgesetzten kommuniziert, nichts sei denen unbekannt gewesen. Diese Enthüllungen könnten nun juristische Konsequenzen haben. Nachdem bereits einige der betroffenen Frauen öffentlich mitgeteilt hatten, sie fühlten sich benutzt und missbraucht, sprechen feministische Gruppen von staatlich sanktionierter Vergewaltigung.

Begonnen hatte die Affäre, als es Linken in Nottingham im Oktober vergangenen Jahres gelang, den Polizeispitzel Mark Kennedy zu enttarnen. Dieser hatte zuvor sieben Jahre aktiv in britischen und europäischen antikapitalistischen Bewegungen mitgewirkt. Der 42jährige hatte in dieser Zeit an allen maßgeblichen britischen und europäischen Protestaktionen teilgenommen und war in der Szene bekannt. Kennedy war auch beim G8-Gipfel in Heiligendamm und unterhielt eine seiner langjährigen Beziehungen mit einer Linken aus Berlin.
Seit 2008 waren in Großbritannien wiederholt Protestierende präventiv festgenommen worden, die auf dem Weg zu Aktionen des zivilen Ungehorsams waren. Die größte präventive Operation fand im März 2009 statt, als ein Polizeiaufgebot 114 Menschen in einer Schule in der Nähe von Nottingham festnahm. Den Festgenommenen wurde vorgeworfen, die Besetzung des Kohlekraftwerks Ratcliffe geplant zu haben. In linken Kreisen ging man zunächst davon aus, dass die Polizei von erweiterten Abhörrechten Gebrauch gemacht und bekannte Umweltschützer gezielt überwacht habe.
Dass Kennedy, der ebenfalls verhaftet wurde, dafür verantwortlich war, blieb zunächst unentdeckt. Er beteiligte sich in den folgenden Monaten an weiteren Protesten, zum Beispiel gegen den G20-Gipfel in London im April 2009. Der Umgang der britischen Polizei mit Demonstranten wurde damals öffentlich kritisiert, nachdem Ian Tomlinson infolge der brutalen Schlagstockattacke eines Polizisten gestorben war. Bereits nach der Massenverhaftung der Demonstranten vonRatcliffe hatte Kennedy seinen Unmut über die Strategie seiner Vorgesetzten bekundet. Diese beschlossen, dass Kennedy nach sieben Jahren in der Szene aussteigen solle. Das aber wollte Kennedy nicht, offenbar hatte er sich an seine Umgebung mehr als nur angepasst. Im Frühjahr 2010 kündigte er seinen Job bei der Polizei. In akuter Finanznot nahm er Kontakt zu privaten Sicherheitsfirmen auf, die im Auftrag britischer Konzerne antikapitalistische Gruppen ausspionieren. Da ihm seine falsche Identität nicht mehr zur Verfügung stand, musste er nun wieder seinen eigenen Führerschein und Pass benutzen. Im Oktober fanden Freunde den Pass, stellten Kennedy zur Rede und erfuhren die Wahrheit. Zunächst blieb die Geschichte der britischen Öffentlichkeit unbekannt. Doch im Dezember 2010 standen Prozesse gegen 26 der in Ratcliffe Festgenommenen an. Eines der Verfahren nahm eine völlig neue Wendung, als die Verteidiger erklärten, dass Mark Kennedy, der Spitzel der Polizei, bereit sei, gegen seine früheren Chefs auszusagen. Die Staatsanwaltschaft zog die Anklage daraufhin zurück, wohl in Sorge, dass vor einem britischen Gericht über die geheime polizeiliche Aufklärungsarbeit diskutiert werden könnte.

Während die Polizei zunächst versuchte, den Fall kleinzureden, und interne Untersuchungen ankündigte, gelang es den Linken, von Mark Kennedy weitere Informationen über die geheime Polizeiarbeit zu bekommen. Er bestätigte zum Beispiel die bestehenden Verdächtigungen gegen zwei langjährige Szenemitglieder, die eines Tages mit zweifelhaften Begründungen linke Gruppen in Leeds und Cardiff verlassen hatten. Die Polizei bestätigte in beiden Fällen die Anschuldigungen.
Nach diesen Enthüllungen meldete sich dann eine weitere Linke, die ehemalige Ehefrau eines anderen langjährigen Polizeispitzels. Der Polizist, der die Ehe seinen Vorgesetzen verschwiegen hatte, wurde daraufhin suspendiert.
Nach dem Zusammenbruch der ersten Anklage prüfen die Anwälte von 20 bereits schuldig gesprochenen Teilnehmern der Aktion in Ratcliffe nun die Chancen für die Wiederaufnahme ihres Verfahrens. Ihr Argument wirft nun ein neues Licht auf den Fall Kennedy. Sie behaupten, der Polizist habe aktiv an der Vorbereitung der Aktion mitgewirkt und sei demnach nicht bloß ein Spitzel, sondern ein Provokateur gewesen. Dies hat nun Ziercke in Bezug auf Kennedys Einsatz in Deutschland bestätigt. Unter anderem war Kennedy in Deutschland festgenommen worden, nachdem er einen Container in Brand gesteckt hatte.
Der für die englische Polizei zuständige Staatssekretär Nick Herbert hat eine »Säuberung« der Undercover-Arbeit angekündigt. Die Opposition und die Regierung haben allerdings bisher wenig Interesse an einer öffentlichen Aufklärung der Vorgänge gezeigt. Auch die Liberaldemokraten, die im Wahlkampf und in der Regierungserklärung versprochen hatten, die Einschränkung der Bürgerrechte, die von der Labour-Regierung beschlossen worden war, rückgängig zu machen, schweigen zu der Affäre. Die britischen Politiker scheinen sich weitgehend darüber einig zu sein, dass zu viel Kritik an der Polizeiarbeit nicht hilfreich ist. Als Teil der »Säuberung« kündigte Staatssekretär Herbert an, die Einheit für Undercover-Operationen in einen »neuen Bereich der Metropolitan Police« zu verlegen. Künftig wird sie demnach John Yates unterstehen, dem Leiter der Anti-Terror-Einheit der Polizei. Nach Ansicht vieler Linker geht damit die Kriminalisierung von politischem Protest reibungslos weiter.