Über die Entwicklung der Revolte in Ägypten 

Freiheit oder Dialog

Aus der Revolte in Ägypten ist ein zäher Machtkampf geworden. Das Regime will keine Demokratisierung zulassen, und die westlichen Regierungen befürworten eine autoritäre Krisenlösung.

Das Ambiente war ungewöhnlich für eine Hochzeit, doch es mangelte nicht an Gästen. Etwa 300 000 Glückwünsche erhielten Ahmad Zaafan und Oula Abdul Hamid, die am Sonntag zwischen Schützenpanzern, Zelten und Barrikaden auf dem Tahrir-Platz in Kairo heirateten. Die beiden hatten seit dem 28. Januar auf dem Platz campiert. Es wurde am Wochenende auch getanzt. Die Stimmung ist gelassener geworden, seit die Armee, die den Angriffen der Schlägertrupps und Heckenschützen des alten Regimes zunächst tatenlos zugeschaut hatte, die Protestierenden schützt.
Die Militärführung ist nun der Ansicht, dass es Zeit sei für ein Ende der Demonstrationen. Doch die Protestierenden wollen bleiben, denn noch ist keine ihrer Forderungen erfüllt worden. Präsident Hosni Mubarak hat auf eine weitere Amtszeit verzichtet, dass auch sein Sohn Gamal nicht kandidieren wird, versprach der Ende Januar ernannte Vizepräsident Omar Suleiman. Zurücktreten will Mubarak jedoch nicht. Suleiman nahm Verhandlungen mit der Opposition auf, er versprach Pressefreiheit, die Freilassung der politischen Gefangenen und die Aufhebung des Ausnahmezustandes, »sobald die Sicherheitslage es zulässt«. Ein Komitee soll mit der Debatte über eine Verfassungsreform beginnen.
Doch eine sofortige Liberalisierung will das Regime nicht zugestehen. »Ägypten wird nicht wie Tunesien sein«, sagte Suleiman. Das erhärtet den Verdacht, dass die Protestbewegung mit Versprechen abgespeist und sodann in Komitees und Kommissionen im bislang üblichen Tempo des arabischen Reformprozesses debattiert werden soll. Den »Dialog« führt Suleiman nur mit der Muslimbruderschaft und den traditionellen Oppositionsparteien. Viele Mitglieder dieser Organisationen haben sich an den Protesten beteiligt, doch weder die Islamisten noch die elitären Altliberalen der Wafd-Partei oder die nasseristischen Nostalgiker der Tagammu repräsentieren die Demokratiebewegung.

Die Bewegung hat keine Führer, doch fiele es nicht schwer, Repräsentanten zu finden, die zwar nicht für alle sprechen, wohl aber die Forderungen der Protestierenden vertreten könnten, unter anderem die Gruppe »We are all Khaled Said« und die »Bewegung des 6. April«. Sie haben den »Tag des Zorns« organisiert, mit dem am 25. Januar die Revolte begann. Auch unabhängige Gewerkschafter und Menschenrechtler müssten beteiligt werden, wenn es einen Demokratisierungsprozess geben soll.
Doch die Parole auf dem Tahrir-Platz ist »Nein zu Verhandlungen«. Das bestätigen alle der von Journalisten befragten Protestierenden. In nicht einmal zwei Wochen haben sie mehr erreicht als die traditionellen Oppositionsparteien in Jahrzehnten. Sie haben in Kairo und anderen Städten die Angriffe der Polizei zurückgeschlagen, zwei Tage und eine Nacht lang verteidigten sie den Tahrir-Platz gegen den Mob der Getreuen Mubaraks, der mit Steinen, Messern und Schusswaffen angerückt war. Nach Angaben von Human Rights Watch wurden 297 Menschen getötet, doch die Protestierenden haben das Regime zu ersten Zugeständnissen gezwungen und sogar die Weltpolitik beeinflusst. Zu Recht sind sie darauf stolz, und sie sehen keinen Grund, sich nun mit einem faulen Kompromiss zufriedenzugeben.
Mittlerweile hat die Militärführung faktisch die Macht übernommen. Der neue Premierminister Ahmed Shafik, ein ehemaliger Offizier, entschuldigte sich für die Angriffe des Mobs auf die Protestierenden und versprach: »Sollte der ehemalige Innenminister Habib al-Adly dahinter stecken, wird er dafür bestraft.« Der Bürokratie der regierenden National Democratic Party (NDP), die keine Kompromisse wollte und wahrscheinlich die Angriffe organisierte, wurde offenbar vom Militär klar gemacht, dass solche Provokationen unerwünscht sind. Die Parteiführung ist mittlerweile zurückgetreten.
Dennoch steht Mubarak nicht ganz allein da. Vom Spitzel im Armenviertel bis zum Millionär, der bei Staatsaufträgen bevorzugt wird, reicht das in Jahrzehnten aufgebaute Klientelsystem. Noch immer sind fast 30 Prozent der Ägypter Analphabeten, viele werden vom Staatsfernsehen beeinflusst, das Israelis und andere Ausländer für die Unruhen verantwortlich macht. Überdies können sich Millionen von Tagelöhnern und Kleinhändlern längere Verdienstausfälle nicht leisten. Die am Montag versprochene Lohnerhöhung von 15 Prozent für alle Staatsangestellten, von der Textilarbeiter, aber auch Polizisten und Offiziere profitieren, ließ Mubarak mit seinem Namen verbinden.

Die Revolte wird nun zu einem zähen Machtkampf, doch der gesellschaftliche Wandel ist unaufhaltsam. Am Sonntag wurde auf dem Tahrir-Platz ein christlicher Gottesdienst abgehalten, noch vor ein paar Monaten hätte dies als Provokation gegolten. Doch eine Revolution besteht nicht zuletzt darin, dass viele Millionen Menschen in wenigen Wochen neue Erfahrungen sammeln, ihre Ansichten ändern und auch lang gehegte Ressentiments ablegen.
Die meisten Ägypter haben seit dem 25. Januar etwas dazugelernt. Für die westlichen Politiker gilt das leider nicht. Mubarak »muss im Amt bleiben«, forderte Frank G. Wisner, US-Sondergesandter für Ägypten und Mitarbeiter des Unternehmens Patton Boggs, das seit 20 Jahren das ägyptische Regime berät. Wisner spreche nicht für die Regierung, sagte Außenministerin Hil­lary Clinton, um auf etwas verschlungeneren Wegen zu dem gleichen Schluss wie ihr Gesandter zu kommen. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Guido Westerwelle warnte sie vor schnellen Neuwahlen.
Tatsächlich müssen die Voraussetzungen für freie Wahlen geschaffen werden. Davon aber ist in den Stellungnahmen der westlichen Politiker nicht die Rede. Sie müssten zumindest den Rücktritt Mubaraks, die Bildung einer vom Regime unabhängigen Interimsregierung, eine Beteiligung der Protestbewegung, die Freilassung aller politischen Gefangenen, die Aufhebung des Ausnehmezustands und die sofortige Gewährung der Grundrechte fordern, wenn es ihnen wirklich um die Demokratisierung ginge. Selbst ihnen kann während der 30 Jahre, in denen sie Mubarak hofiert, finanziert und mit Waffen versorgt haben, nicht entgangen sein, dass der Staatsapparat des Präsidenten nicht sehr reformfreudig ist.

Doch das Regime soll die Kontrolle behalten, darauf haben sich die Repräsentanten der USA und der EU nach einigem Zögern offenbar am Wochenende auf der Sicherheitskonferenz in München geeinigt. Der Westen unterhält wirtschaftlich einträgliche und politisch bequeme Beziehungen zu Ägypten und anderen Autokratien der Region. Es ist daher fraglich, ob wirklich nur die Angst vor den Islamisten das Motiv für den Wunsch nach einer autoritären Krisenlösung ist. Denn es ist offensichtlich, dass eine institutionelle Einbindung der Muslimbruderschaft in den Übergangsprozess bei Ausschluss der Demokratiebewegung die Islamisten stärkt.
Kurioserweise ist es derzeit die Muslimbruderschaft, die sich ihrer Integration widersetzt, obwohl dies einen Machtgewinn mit sich bringen würde. Die Islamisten bestehen auf einer Erfüllung der Forderungen der Protestbewegung, weil sie fürchten, sich andernfalls zu isolieren. Das immerhin gibt Anlass zur Hoffnung, denn während westliche Politiker glauben, im alten Stil zwischen den Islamisten und dem nationalreligiösen Regime lavieren zu können, sind sich die Muslimbrüder der Stärke der Demokratiebewegung bewusst.