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Im stehenden Sturmlauf

Geschlechtsidentität, Arbeitsverhältnis, Beziehung – alles ist flexibel. Auf der 61. Berlinale dominieren Filme, die sich mit Transformationsprozessen beschäftigen.

Neue Tendenzen des Kinos entdecken – das will die 61. Berlinale laut ihrem Leiter Dieter Kosslick. Na, das ist doch mal ein interessanter Trend. Wie gewohnt war aber alles schon mal irgendwie da – und so werden die Berliner Filmfestspiele dieses Jahr mit einem Western eröffnet: »True Grit« von den Coen Brothers. Natürlich handele es sich um einen Anti-Western und um einen Frauenfilm, heißt es beim Festival. Ein weiterer Trend: 3D-Kino. Sogar im Wettbewerb laufen die raumgreifenden Werke. Denn Achtung: Das Kino droht ein Auslaufmodell zu werden, überall lauert das Internet. Dafür wird der Betrieb nun mit Ökostrom gefahren.
Von der Wirtschaft zur Politik: Die internationale Jury ist hochkarätig besetzt, Isabella Rossellini ist die Präsidentin. Die deutsche Schauspielerin Nina Hoss ist dabei und Aamir Khan, der Bollywood-Superstar. Produzentin Jan Chapman, Stummfilmregisseur Guy Maddin und Kostümbildnerin Sandy Powell. Ein Filmkritiker wär’ auch mal toll!
Die interessanteste Personalie: Regisseur Jafar Panahi aus dem Iran. Der darf nicht ausreisen und sitzt wohl demnächst eine sechsjährige Haftstrafe ab. Der Vorwurf lautet: Propaganda gegen das System. Man hat ihn zudem mit 20 Jahren Berufsverbot belegt – selbst das iranische Kulturministerium soll sich ob des Ausmaßes der Strafe irritiert gezeigt haben.
Sein Platz in der Jury bleibt unbesetzt Es wird ein Sonderprogramm mit Panahis Filmen geben, zu sehen ist u.a. »Offside« von 2006, ein Film, der in Berlin schon den Silbernen Bären gewann.
Nun zum übrigen Programm: Einen Goldenen Bären gewann 2009 José Padilha mit seinem brutalen Ghetto-Film »Tropa de Elite«. Das war eine gute Wahl – sonst hätte das Publikum nie erfahren, was es mit Presunto und Microondas auf sich hat.
Presunto bedeutet Schinken; in der Sprache Rio de Janeiros ist dies möglichst ein weiblicher Mensch, der auf einer Matratze geröstet wird. Microondas wiederum ist jemand, der in einem Stapel Autoreifen verbrannt wird. So weit zur verkürzten Inhaltsangabe, der Film war stilbildend in der realitätsnahen Komposition gewalthaltiger Vorgänge: Brasilianische Mütter drohen ihren Kindern, der Titelheld Capitão Nascimento – legendärer Chef der rabiaten Polizeitruppe BOPE – komme, wenn sie ihren Teller nicht leer essen.
Padilha ist nun gleich zweimal wieder da: Einmal läuft »Tropa de Elite 2« in der Sektion Panorama. Zum anderen unterrichtet das Enfant terrible Brasiliens im Talent Campus, der Kaderschmiede künftigen Filmschaffens. Nun geht Nascimento auf Jagd nach korrupten Polizisten! Das meiste erzählt er jedoch im Offkommentar: Wie er denkt, was Politiker für Drecksäcke sind undundund. Eine fast zweistündige, hyperkorrekte Suada ans Volk. Man wird den Eindruck nicht los: Padilha möchte den Ruf loswerden, reines Gewaltkino zu machen.
Aber immerhin: Soziale Kämpfe und Verwerfungen sind ein Thema. Einer der guten Filme, die in Berlin laufen werden, ist »También la Lluvia«: Hier geht es um den als »Wasserkrieg« in die Geschichte eingegangenen Konflikt in bolivianischen Städten im Jahre 2005. Die Wasserrechte waren an Konzerne verkauft worden, angeblich zur Haushaltssanierung, wie überall in der Welt. Die Bevölkerung hat es mit gewerkschaft­licher Unterstützung tatsächlich geschafft, die international aufgestellten Firmen wenigstens aus der Stadt zu drängen. Regisseur Iciar Bollaín hat daraus einen äußerst intelligenten Film gemacht: Er lässt ein Filmteam durch die Szenerie stapfen, das einen Film über die Landung der Spanier vor 500 Jahren drehen will. Na, wenn es da keine Parallelen gibt – Taschentuch, bitte! Vor Rührung zerfließt man auch beim Betrachten der Produktionen »Mama Africa« über die Sängerin Mirjam Makeba und »Black Power Mix Tape« über die Black Panthers, beides solide gemachte Dokumentationen.
Der schwullesbische Film erfährt seine zeitgemäße Transformation ins LGBT-Genre. Zum Beispiel in dem Beitrag »Romeos« von Sabine Bernhardi: Ein Mädchen, das auf Jungs steht, verwandelt sich sukzessive in einen schwulen Mann.
In der flotten Komödie erfährt man alles über Geschlechtsumwandlungen – und worauf man als Teenager zu achten hat, wenn man so etwas vorhat. Bin ich jetzt Mirjam oder Lukas? »Da hättste ja auch ein Mädchen bleiben können«, sagt die alte beste Freundin. Die natürlich lesbisch ist. Der Transitmensch als Symbolfigur des Weltzustandes: Ständig fühlt man sich im Übergang. Das Leben – eine Durchgangsstation.
Familie und Beziehungen stehen wie immer ganz oben auf der Diskursliste, teilt die Festivalleitung mit. Oder besser: ihre Zerlegung in die Einzelteile. Waren soziale Bindungen denn jemals stabil? Wie auch immer: Zustände permanenten Selbstzweifels sollen hier sichtbar werden.
Der Altmeister des  verstörenden Films, Bruce LaBruce, wird dieses Jahr nicht selbst aktiv, dafür gibt es einen Dokumentarfilm über ihn: »The Advocate For Fagdom«. Die Retrospektive geht an den großen Griesgram Ingmar Bergman.
Lange Jahre sah es in der kleinen Festival-Sektion Perspektive Deutsches Kino gar nicht gut aus. Hier laufen oft Abschlussfilme deutscher Filmhochschüler, zum Teil erreichen sie nicht unbedingt die abendfüllende Spielfilmlänge. In der Regel präsentierte sich das junge deutsche Filmschaffen als etwas apolitisch, ­gewollt artifiziell, wenig recherchierte Dokumentation oder auch mal: Blödsinn.
Dieses Jahr gelingt es, da etwas gegenzusteuern: Ein richtiger Edelstein ist Dirk Lütters Spielfilm-Debüt »Die Ausbildung«. Im Mittelpunkt steht der Azubi Jan, der im dritten Ausbildungsjahr ist und hofft, von seinem Laden, einem mittelständischen Klimatechnik-Anbieter, übernommen zu werden. Im Betrieb zerbröselt so langsam alles, was menschenwürdige Arbeit sein könnte. Die Abteilungsleiterin mit dem kranken Sohn wird rausgemobbt, die Leiharbeiterin feiert den Geburtstag nicht mit, der Chef ist übergriffig. Zu allem Überfluss ist Jans Mutter eine Betriebsrätin, die rausgeschmissen werden soll wegen irgendeines zu viel getrunkenen Glases Sekt auf der Stehparty.
Lütter hat erstklassig recherchiert; und alle Wiedergänger des prekarisierten Arbeitsmarktes – Leih- und Zeitarbeit, befristete und Kettenverträge, fehlende Perspektive – sind hier gecastet worden. Dazwischen sucht Jan die Liebe.
Mit Joseph Bundschuh, der die Rolle des Jan spielt, wurde ein hervorragender Darsteller gefunden. Lütter setzt die komplizierten Ausbeutungsmodalitäten in einen gelungenen Plot um. Und wenn Jan mit seiner Freundin in der Umlanddisco tanzen geht, ist dies mit großer Kälte inszeniert; krampfhaft und hilflos die Versuche, dieser Existenz als Zeitarbeiter in der Hotline der Kundenberatung einen Sinn abzuringen. Was mag es sein, das eigene Leben, welchen Zielen soll es folgen: Ist es wirklich der Benz vom Betriebsleiter?
Eine Generation im Stand-by-Modus des Übergangs, mit Kafka könnte man sagen: Im stehenden Sturmlauf. Selten sah man so kalte Bilder einer Jugend.

Berliner Filmfestspiele. 10. bis 20. Februar 2011.
Infos: