Beziehungskrisen auf der 61. Berlinale

Das Politische ist privat

Im Blickpunkt der 61. Berlinale standen Beziehungsschwierigkeiten. Und deren Sprache wird überall auf der Welt verstanden.

Beziehungen und das Gerede darüber waren ein Leitmotiv in den Filmen der diesjährigen Berlinale. Oder vielmehr die Krisen der Beziehungen. Das Spiel vom Austeilen und Einstecken ist für das zeitgenössische Kino von elementarer Bedeutung. Geradezu klassisch sind da Filme wie »The Brownian Movement«, eine Versuchsanordnung mit der auf Borderline gestrickten Darstellerin Sandra Hüller: Wohlsituierte Ärztin mit schönem Mann und Kind mietet Wohnung an, um alte, fette Säcke zu ficken und Körperflüssigkeiten zu konsumieren.
Diese Art Film gibt es alle fünf Jahre, bestimmt. Das muss so etwas wie ein Charakterfach sein – und mal ehrlich: Diese Versuchs­anordnung ist ja auch richtig wirklichkeitsnah. Kein Wunder, dass der Kinosaal brechend voll war, Sandra Hüller wird wahrscheinlich noch viele Darstellerinnenpreise für die Zuschaustellung ihrer wuscheligen Schamhaare erhalten.
Puh! Abseits solcher Preziosen lässt sich ein Trend hin zum Erzählkino beobachten. Ganz wörtlich – ich hätte es nicht gedacht, aber: Ich habe mich sehr über den Wim-Wenders-Film »Pina« gefreut. Von den vielen Regisseuren der diesjährigen Berlinale gehört der deutsche Filmzausel zu jenen, die ihren Bildern vertrauen. Kein Wunder. »Pina« ist ein Dokumentarfilm über das nunmehr verwaiste Tanztheater Pina Bauschs in Wuppertal. Die Choreographin starb unerwartet im Sommer 2009.
Ihre Tänzerinnen und Tänzer hüpfen nun in Wenders’ Film umher, sie tanzen an der Straßenkreuzung und, wie passend: in der Wuppertaler Schwebebahn.
Eines tun sie nicht, im Unterschied zu den Figuren in vielen anderen Filmen: endlos palavern. Regisseure: Wenn ihr Talkshows ins Kino bringen wollt, bitteschön. Zu bedenken ist jedoch, dass das Kino mal ganz erfolgreich ohne Ton war, als Stummfilm. Da sind die Leute tatsächlich gern reingegangen. Bewegung, Mimik, Gesten – das sind alles zulässige Stilmittel im Kino. Landschaften und Tiere machen sich auch gut.
Man versuchte sich auf der Filmolympiade, die jedes Jahr nur in Berlin stattfindet, zwar am 3D-Format, praktiziert wurde aber weitestgehend 1D – ausschließlich die Tonspur gilt als filmische Dimension. Im hundertundsoundsovielten Jahr seines Bestehens ist das Kino vor allem dies: Frontalunterricht. Es gibt den Stoff, er soll vermittelt werden. Nun muss das nicht schlecht sein, »Margin Call« zum Beispiel, J. C. Chandors Kammerspiel zur Finanzkrise, war ganz flott, hoffentlich ist jetzt keiner der Heuschrecken-Banker von sich eingenommen, die da so topsympatico besetzt sind mit Jeremy Irons und Kevin Spacey. Trotzdem macht es Spaß, ihnen dabei zuzusehen, wie sie die Weltwirtschaft ruinieren. Richtig wegweisend ist das aber nicht. Der von Jeremy Irons gespielte Superkapitalist soll uns eine Identifikation im Sinne der Freudschen Übertragung ermöglichen: Ich hasse meinen Vater, deswegen ist das Geld alle. Was ist das Kino anderes als Massentherapie? Man sitzt im Sessel und hört der antisozialen Persönlichkeit namens Film beim Erzählen zu.
Die Finanzkrise wird ausschließlich diskursiv verhandelt. Auch und gerade der politische Film folgt der Logik von erzählten Vorgängen. Politik wird nicht gespielt, sie wird gesagt. Entweder gibt es keine neuen Bilder für sie – man sitzt vor dem Computer und macht große Augen –, oder es ist keiner solche Bilder suchen gegangen. So verweist der Finanzkrisenfilm auch gleich noch auf die Kinokrise. Bei der ersten vertraut keiner den Papieren, bei der anderen niemand dem Gezeigten.
So, jetzt die Hüller und den Spacey zusammendenken: Selbst so etwas Ökonomisches wie die Weltwirtschaft wird irgendwie als Beziehungskiste inszeniert. Das muss nicht immer Missklänge erzeugen. Am interessantesten ist die Kombination, wenn der Schurkenstaat himself zu Wort kommt: der Iran.
Mit dem Ausreiseverbot für Ja’fer Panahi hat das Land eindrücklich bewiesen, dass es eine enge Verbindung zu seinen Filmschaffenden hat. Regisseur Asghar Fahadi hat denn auch die Zustände in seiner Heimat als Beziehungsstörung dargestellt: »Die Trennung« hieß sein Wettbewerbsbeitrag. Ein Ehepaar will sich scheiden lassen. Die Ehefrau sieht keine Zukunft im Iran für sich und das Kind, jetzt hat sie sogar ein Visum fürs Ausland bekommen. Der Mann zögert, was wird aus dem dementen Vater? Was aus Job, übriger Familie, Leben?
Löcher im Kopf, Todesstrafe, Mord – all das steht schnell als Drohung im Raum. Eine fatale Kette von Ereignissen setzt sich in Gang – turbulent wie die Komödien von Wilder oder Lubitsch, nur ganz ohne Lachen. Das Leben auf Farsi ist kein Vergnügen, deutet der iranische Filmemacher an. Der persische Mensch ist die Summe seiner Schmerzen. Ein Film mit Drehbuch und Geschichte – und einem Stilmittel, das der Ber­linale-Film oft nicht kennt: Spannung. Damit ist »Die Trennung« natürlich etwas anachronistisch, weil Naturalismus pur. Aber die inszenierte Beziehungsproblematik, die liegt im Trend!
In eine ähnliche Kerbe haut der griechische Streifen »Man at Sea« in der Sektion Panorama, ein fast gelungenes Globalisierungsdrama mit einem von Haufen Flüchtlingen auf einem Seelenverkäufer. Der Kapitän hat sie notgedrungen aus den Wellen gefischt, er hatte Angst, sich andernfalls des Mordes schuldig zu machen. An ihrer Zukunft wird kein Zweifel gelassen: Sie müssen irgendwo in Afrika an Land gehen und werden wohl dem Organhandel zwecks Ausschlachtung zur Verfügung stehen. Drastisch, hart, übel: Alsbald sind die Beziehungen auf dem Öltanker schwer geschädigt. Auch die zwischen dem Kapitän und seinem Vater – der ist nämlich Chef der Reederei. Durch die teure humanitäre Aktion des Sohnes geht die Firma pleite. Auch mit der mitreisenden Gattin gibt es reichlich Zoff. Die Crew steht bald nicht besser da als ihre Fracht. Fast ein wenig beziehungsüberladen, möchte man sagen, diese illegale Migration.
Sogar das Jenseits ist maßgeblich von Beziehungsschwierigkeiten bestimmt. Wie das Schicksal der Leiche jenes Mannes in dem spanischen Film »Armador« zeigt, die nicht beerdigt werden darf. Die Altenpflegerin muss darüber schweigen, dass der Mann gestorben ist, weil es sonst zuhause Ärger gibt: Ihr Mann wird schimpfen, dass kein Geld mehr kommt. Und die Kinder des Toten verschweigen sein Ableben, denn sie brauchen seine Rente für den Hausbau. Die Konflikte im Diesseits dominieren noch den Himmel, so mächtig sind sie.
So bleibt die Leiche unter den Lebenden, denn die wollen und können sie nicht gehen lassen.
Auch im vielleicht krassesten Film des Festivals drehte man an der Beziehungsschraube: »The Terrorists«. Dem Regisseur Thunska Pansittivorakul genügte es nicht, einfach einen Film über Menschenrechtsverletzungen in Thailand zu machen, das würde wohl zu schnell langweilig. Gut, dass er sein Referat über den Terror mit Bildern von jungen Schwulen unterlegt, die ihre Beziehung in gemeinsamem Masturbieren ausleben – das hat der Militärdiktatur gerade noch gefehlt.
Na, ist doch wunderbar! Das Politische ist privat. Beziehungskrisen kennt das Kinopublikum der ganzen Welt. Probleme mit den Mitmenschen – das ist eine Sprache, die überall verstanden wird. Berliner Schule, dich gibt’s jetzt weltweit.