Aufstand der Anständigen in Italien

Italien vereint gegen die Sünde

Italiens Ministerpräsident Silvio Berlusconi steht unter Anklage der Justiz – und auch der öffentlichen Meinung. Doch weder seine Politik noch sein System der Korruption und der privaten Begünstigungen, mit dem er seine autokratische Herrschaft sichert, ist Gegenstand der Kritik. Die mo­ralische Empörung richtet sich fast ausschließlich gegen die Person Berlusconi.

Silvio Berlusconi regiert weiter. Auch nachdem vorige Woche das Mailänder Untersuchungsgericht der Anklage der Staatsanwaltschaft stattgegeben hat und sich der italienische Ministerprä­sident Anfang April aufgrund eindeutiger Beweislage in einem Schnellverfahren wegen Amtsmissbrauch und Prostitution Minderjähriger verantworten muss. Dass Berlusconi persönlich vor Gericht erscheint, ist unwahrscheinlich, um seine Verteidigung kümmern sich zwei Abgeordnete seiner Partei.
Die Strategie der Anwälte Niccolò Ghedini und Piero Longo zielt bisher darauf, die Zuständigkeit des Mailänder Gerichts infragezustellen. Berlusconi habe in seiner Funktion als Ministerpräsident gehandelt, als er im Frühjahr vorigen Jahres in der Mailänder Präfektur angerufen und die Freilassung der 17jährigen Karima al-Marough an­geordnet habe. Da er davon ausgegangen sei, es handele sich um eine Nichte des damaligen ägyptischen Staatspräsidenten Hosni Mubarak, habe er einen diplomatischen Zwischenfall verhindern wollen. Daher könne nur das sogenannte Ministertribunal über ihn richten. Zur Ein­berufung dieses Sondergerichts bedarf es der Zustimmung des Parlaments, in dem der Angeklagte über eine Stimmenmehrheit verfügt.
Gezwungen, zu dieser offensichtlich lächerlichen Begründung Stellung zu nehmen, verwies die Staatsanwaltschaft Mailand auf den Amtsweg. Der Ministerpräsident hätte in diesem Fall seinen Innenminister und die diplomatischen Vertretungen Ägyptens in Italien benachrichtigen müssen. Die Anwälte erwägen, dennoch die Zuständigkeit des Gerichts vom Verfassungsgericht prüfen zu lassen, doch damit hätten sie wenig Aussicht auf Erfolg. Das Oberste Gericht ließ bereits verlauten, nur über Konflikte zwischen Verfassungsorganen urteilen zu können, während die entstandene Streitfrage vom Kassationsgericht geklärt werden müsse. Die Verteidigung kann mit ihrer Strategie zwar zu der von Berlusconi seit Jahren betriebenen Delegitimierung des italienischen Justizapparats beitragen, den Prozessbeginn am 6. April wird sie aber nicht verhindern können.

Der Ministerpräsident bleibt dennoch im Amt. Denn nicht nur die eigene Partei unterstützt ihren Vorsitzenden. Immer mehr Abgeordnete, die noch im Sommer dem aus der Partei ausgeschlossenen Parlamentspräsidenten Gianfranco Fini gefolgt und in dessen neugegründete Partei »Zukunft und Freiheit für Italien« (FLI) eingetreten waren, kehren inzwischen zu Berlusconis »Partei Volk der Freiheit« (PDL) zurück. Er sei machtlos gegen die »verführerischen Waffen desjenigen, der regiert und über mediale und finanzielle Machtmittel verfügt«, sagte Fini. Nachdem bereits im Dezember einige seiner Anhänger durch Stimmenthaltung dazu beitrugen, dass der Misstrauensantrag gegen Berlusconi scheiterte, hat Finis Partei im Senat inzwischen sogar den Fraktionsstatus verloren. Im Parlament verfügt die Regierung wegen der Rückkehr der FLI-Abgeordneten wieder über eine knappe Stimmenmehrheit. Sich seiner parlamentarischen Mehrheit sicher, kündigte Berlusconi am Wochenende bereits eine neue Gesetzesoffensive zur Entmachtung der Staatsanwaltschaft an. Solange sein Koalitionspartner, die Lega Nord, ihn nicht fallen lässt, kann er seine Geschäfte in Rom weiterführen, auch wenn sich in Mailand die Weltpresse an den Details seiner Sex-Affären ergötzt und jeder andere seiner europäischen Amtskollegen längst hätte zurücktreten müssen.
Die Empörung, die zuletzt Hunderttausende zu Großdemonstrationen auf die italienischen Straßen und Plätze trieb, kann dem Ministerpräsidenten wenig anhaben. Die Entrüstung ist mo­ralistisch und größtenteils reaktionär. Sie bringt die Empörung über eine als unsittlich empfundene Handlung zum Ausdruck. Der Indignation folgt lediglich das Bedürfnis, für eine vermeintlich erlittene Beleidigung Sanktionen zu fordern.

Bereits seit Ende November 2009 finden regelmäßig Massenproteste statt. Damals konstituierte sich über Facebook der »Popolo Viola« und orga­nisierte den ersten »No-B-Day«. Unterstützung erfährt die Forderung, Berlusconi möge zurücktreten und sich seinen Prozessen stellen, von der Tageszeitung Il fatto quotidiano, aber auch die große linksliberale Zeitung La Repubblica macht sich mit ihren unzähligen Petitionen gegen den Ministerpräsidenten mehr und mehr zum Sprachrohr eines vulgären Anti-Berlusconismus. Obwohl als parteiübergreifende Facebook-Gruppe entstanden, unterhält die Bewegung des »Popolo Viola« lose Verbindungen zur Partei »Italien der Werte« (IdV), die vom ehemaligen Mailänder Staatsanwalt Antonio Di Pietro gegründet wurde. Er gehörte Anfang der neunziger Jahre zu den leitenden Ermittlern im Mailänder Untersuchungsverfahren »Mani pulite«. Damals war auf juristischem Weg das Ende des korrupten Parteiensystems der Ersten Republik besiegelt, aber keine demokratische Erneuerung eingeleitet worden. Stattdessen begann der politische Aufstieg Silvio Berlusconis. Knapp 20 Jahre später werden die politischen Missstände in Italien wieder nur juristisch verfolgt, nicht aber politisch bekämpft.
Umfragen zufolge unterstützen weiterhin rund 40 Prozent der Bevölkerung die Regierungskoa­lition, die 60 Prozent der vermeintlichen Berlusconi-Gegner bilden jedoch nur eine arithmetische, keine politische Mehrheit. Insbesondere die Demokraten, die größte Oppositionspartei, bieten nicht die propagierte »Alternative«. Aufgrund der nicht unbegründeten Sorge, Berlusconi könnte im Falle vorgezogener Neuwahlen als relativer Wahlsieger von dem im Wahlgesetz festgeschrieben Mehrheitsbonus profitieren und sich im Verlauf der neuen Legislaturperiode zum Staatspräsidenten wählen lassen, haben sie sich in den vergangenen Monaten lange vor einer Zuspitzung der Regierungskrise gefürchtet. Angesichts der jüngsten Ermittlungen gegen Berlusconi fordert die Demokratische Partei (PD) nun erstmals den Rücktritt des Ministerpräsidenten. Die Empörung führt auch bei den Demokraten dazu, dass sie sich eher aus moralischen und weniger aus politischen Gründen von Berlusconi distanzieren. Gemeinsam mit den katholisch-konservativen Parteien der parlamentarischen Mitte und Finis postfaschistischer Splittergruppe will der PD eine »verfassunggebende« Übergangsregierung bilden, um den »demokratische Notstand« zu beenden und zu einer nicht näher bestimmten »Normalität« zurückzukehren.

Pier Luigi Bersani, der Vorsitzende des PD, warb dafür zuletzt sogar um die Gunst der Lega Nord. In einem Interview mit deren Parteizeitung La Padania forderte er die separatistische Rechtspartei aus dem Norden auf, Berlusconis marode Regierung nicht länger zu unterstützen. Die von der Lega gewünschte föderale Umstrukturierung des italienischen Einheitsstaates könne auch in einer »großen Koalition« ausgehandelt werden. Vorbehalte gegen die bisher treuesten Verbündeten Berlusconis gebe es keine, ihm brauche auch niemand erklären, dass die Lega nicht rassistisch sei, denn, so Bersani wörtlich, »das weiß ich selbst«. Nur wenige Tage zuvor hatte der Innenminister der Lega Nord, Roberto Maroni, angesichts einiger Tausend tunesischer Flüchtlinge, die auf Lampedusa angekommen waren, vor einem »biblischen Exodus« aus Nordafrika gewarnt und die europäische Grenzschutzagentur Frontex zu einem energischen Eingreifen aufgefordert. Doch weder Maronis Aussagen noch das Interview von Bersani lösten Entrüstung aus. Die Italienerinnen und Italiener stören sich ausschließlich an Berlusconi, nicht am System des Berlusconismus, zu dessen charakteristischen Merkmalen eine repressive und rassistische Immigrationspolitik gehört.
Auch Nichi Vendola, Apuliens linker Regionalpräsident, der bisher für eine radikale Abgrenzung zu den konservativen Parteien plädierte und den PD drängte, zusammen mit den sozialen Bewegungen ein neues Mitte-Links-Bündnis zu konstruieren, ließ sich mittlerweile von den empörten Massen Bange machen. Nach den imposanten Demonstrationen zur Verteidigung der Würde der Frauen glaubte er der diffusen Anti-Berlusconi-Stimmung nachgeben zu müssen. Erstmals erklärte er sich deshalb bereit, für eine Übergangsperiode einer »heiligen Allianz«, die von den Ex-Kommunisten bis zu den Postfaschisten reicht, zuzustimmen, vorausgesetzt, die Koalition würde von einer Frau angeführt. Er schlug die katholische Demokratin Rosy Bindi vor, die zu einer Galionsfigur des Anti-Berlusconi-Lagers avancierte, nachdem sie in einer Fernseh-Talkshow Berlusconis sexistische Angriffe schlagfertig pariert hatte. Obwohl Vendolas Vorschlag bei der ­radikalen Basis nicht gut ankam und von den Demokraten sowie von Bindi selbst abgelehnt wurde, zeigt das Vorhaben des linken Politikers, wie die nur moralische Entrüstung leicht zu reaktionären Koalitionen führt, in der anständige Rechte und moderate Linke in wütender Harmonie zusammenfinden.