Über ein Buch zur antikolonialen Algerien-Solidarität der Linken

»Trägerrakete des Antiimperialismus«

In der linken Algerien-Solidarität der fünfziger und sechziger Jahre kam es erstmals zu einer umfassenden Kooperation von Linken und Muslimen. Eine Studie skizziert diese Zusammenarbeit anhand des österreichischen Internationalismus.

Der keineswegs nur von französischer Seite mit extremer Grausamkeit geführte algerische Unabhängigkeitskrieg war in den fünfziger und sechziger Jahren ein wichtiger Bezugspunkt europäischer Linker. Generationen von Antiimperialisten studierten die Erfahrungen des Front de Libération National (FLN), die Methoden der »Schlacht um Algier« fanden Eingang in die Handbücher der counterinsurgency, und Frantz Fanons Buch »Die Verdammten dieser Erde« avancierte zum Klassiker. Marcel van der Linden, Direktor des Internationalen Instituts für Sozialgeschichte in Amsterdam, weist im Vorwort zu Fritz Kellers Studie über die österreichische Algerien-Solidarität darauf hin, dass die europäische Bewegung, die sich mit dem FLN solidarisierte, der erste Versuch gewesen sei, »die Möglichkeiten und Grenzen der politischen Kooperation von Linken und Muslimen auszuloten«.
In den Fünfzigern entstand in Österreich eine von Jungsozialisten getragene Aktivistengruppe, die die Diskussion über Algerien nicht nur pub­lizistisch beeinflusste, sondern praktische Unterstützung für den FLN organisierte. Von besonderem Interesse ist dieses Engagement, weil es keineswegs von Unbekannten betrieben wurde: Mit Erwin Lanc und Karl Blecha waren spätere Außen- und Innenminister der sozialdemokra­tischen Reformregierungen der siebziger und achtziger Jahre direkt in die oft am Rande der Legalität angesiedelten Aktionen involviert. Mit Bruno Kreisky und Rudolf Kirchschläger unterstützten auch der spätere Kanzler und der spätere Bundespräsident die Hilfe für den FLN.
Keller beschreibt die Streits, die es in der Sozi­alistischen Internationale mit den französischen Sozialisten über die Algerien-Frage gab, und skizziert neben dem Engagement der SPÖ die Algerien-Politik der KPÖ sowie der österreichischen Trotzkisten. Zu den instruktivsten Passagen der Studie gehört die Darstellung der Konflikte in der österreichischen Sozialdemokratie: Deren linker Flügel um Josef Hindels forderte die bedingungslose Unterstützung des »nationalrevolutionären« Antikolonialismus, das pragmatische Zentrum um Bruno Kreisky setzte ebenfalls auf eine Unterstützung des FLN. Der rechte Parteiflügel hingegen agitierte gegen eine blinde Unterstützung des islamischen Panarabismus und verwies auf die Kooperation dieser Kräfte mit dem Nationalsozialismus, die sich bis in die Gegenwart fortsetze.
Keller schildert die Begeisterung ehemaliger Nazis für die gegen Frankreich gerichtete Politik des FLN und zitiert einen linken Algerien-Reisenden des Jahres 1964, der die Kontinuitäten vom antiwestlichen Furor des Nazismus bis zum trikontinentalen Antikolonialismus auf den Punkt bringt: »Für den Sozialismus sind hier alle. Für Hitler auch.« Am Beginn der Algerien-Solidarität in Österreich stand die Kooperation mit der Jami’at al-Islam, deren Hauptaufgabe darin bestand, sich für die etwa 3 000 islamischen Nazikollaborateure aus Zentralasien und dem Balkan einzusetzen, die sich nach 1945 in Österreich aufhielten. Zentrale Figur der Jami’at al-Islam und Mittelsmann zu linken Algerien-Aktivisten war Smail Balic, der sich Keller zufolge später zum Kritiker des Islamismus wandelte. Während des Zweiten Weltkriegs hatte er pronazistische Schriften publiziert und die Bestrebungen von Amin al-Husseini, dem antisemitischen Mufti von Jerusalem, bei der Aufstellung bosnischer SS-Divisionen unterstützt.
Keller vergleicht die österreichischen Aktivitäten mit der Algerien-Solidarität in anderen Ländern. In Deutschland wurde der Konflikt nicht zuletzt wegen der Anwesenheit französischer Truppen schärfer ausgetragen als in Österreich. Keller verweist darauf, dass in der BRD Bombenanschläge der rechten Terrororganisation Main Rouge auf FLN-Funktionäre und ihre Unterstützer zur Jahreswende 1959/60 nahezu an der Tagesordnung waren. Wurden in der BRD jedoch schon während des Unabhängigkeitskriegs auch grausame Bestrafungsaktionen in den Reihen des FLN und gegenüber politischen Konkurrenten innerhalb der Solidaritätsbewegung thema­tisiert, fand Vergleichbares in Österreich kaum statt. Die dortigen Aktivisten, so Keller, seien nicht in der Lage gewesen, »wichtige Problemstellungen des paradigmatischen Ereignisses ›Algerienkrieg‹ (…) auch nur ansatzweise zu analysieren«.
Doch auch in Kellers Buch, das leider in einem Verlag erschienen ist, der auch Pamphlete wie Israel Shamirs »Blumen aus Galiläa« verbreitet, dessen französische Ausgabe wegen Antisemitismus verboten ist, finden sich kaum Ansätze einer solchen Analyse. Bei der Präsentation seines Buches in Wien formulierte er indessen eine deutliche Kritik an der »Naivität der damaligen jungsozialistischen Solidaritätsaktivisten«, die jede nach Sozialismus klingende Verlautbarung des FLN begierig aufgegriffen hätten, während sie sich für die tatsächliche Politik der algerischen Antikolonialisten, die bei ihren Mitgliedern rigide gegen die Missachtung des Ramadan, Tabak- und Alkoholkonsum vorgingen, kaum interessierten. Umso erstaunlicher ist es, dass mit Karl Blecha ein Exponent der Algerien-Solidarität, von dem bis heute kein kritisches Wort zur früheren Unterstützung des FLN bekannt ist, ein Vorwort beigesteuert hat. Der ehemalige Innenminister bezieht sich auf den austromarxistischen Theoretiker Otto Bauer, der verkündet hatte, die »antikolonialistische Revolution« werde »durch ihren unausbleiblichen Erfolg vor allem die Bewegung der demokratischen Sozialisten stärken – und das weltweit«. Blecha, der Ausbildungslager des militärischen Flügels des FLN besucht hat, scheint das heute noch zu glauben. Er bezeichnet die Algerien-Solidarität als »Trägerrakete des Antiimperialismus«, bedauert aber, dass sie »in Österreich keine nachhaltige Wirkung« gehabt habe.
Zu Recht widerspricht Keller ihm darin und verweist nicht nur auf Kreiskys Nahost-Politik, sondern auch auf die Rolle, welche die »innige Kooperation zwischen SPÖ und FLN« bei der Akquirierung von Aufträgen für die verstaatlichte österreichische Industrie gespielt hat. Kreiskys Hofierung der PLO, die damals noch offen zur Vernichtung Israels aufrief, fand in der linken Algerien-Solidarität ebenso ihre Grundlage wie das Verhalten gegenüber dem Iran unter Khomeini, dem Erwin Lanc, der rund 20 Jahre vorher in die Unterstützung des FLN involviert war, als erster westlicher Außenminister 1984 seine Aufwartung machte. Diese Kritiklosigkeit gegenüber islamischen Bewegungen setzt sich noch in der Gegenwart fort , wenn etwa Kreiskys ehemaliger Sekretär im Kanzleramt, Thomas Nowotny, fordert, die Hamas als Gesprächspartner anzuerkennen.
Dass man auch schon damals hätte wissen können, worauf der kryptosozialistische islamische Nationalismus weiter Teile der FLN hinauslaufen würde, bestätigt sich, wenn man die im vergangenen Jahr auf Deutsch erschienene Autobiographie von Claude Lanzmann liest, der sich anfänglich für die algerische Unabhängigkeit einsetzte und Proteste gegen die Massaker der französischen Kolonialmacht unterstützte, aber bald ernüchtert feststellte: »Ich hatte geglaubt, man könnte gleichzeitig für die Unabhängigkeit Algeriens und die Existenz des Staates Israel sein. Ich hatte mich getäuscht.«

Fritz Keller: Gelebter Internationalismus. Österreichs Linke und der algerische Widerstand (1958–1963). Promedia, Wien 2010, 315 Seiten, 19,90 Euro
geändert am 02.03.2011