Gewerkschaftsproteste in Wisconsin

Koch mag keinen Käse

Die republikanische Regierung des US-Bundesstaats Wisconsin will die Gehälter im öffentlichen Dienst kürzen und die Rechte der Gewerkschaften einschränken. Gegen diese Pläne demonstrieren Zehntausende.

Seit mehr als zwei Wochen wird protestiert, Zehntausende Demonstranten belagern das Regierungsviertel, und während Hunderte Besetzer im Parlamentsgebäude campieren, sind etliche Abgeordnete untergetaucht. Der Aufstand hat auch schon einen Namen, in den Medien wird er als »Cheddar Revolution« bezeichnet, benannt nach einem der wichtigsten Agrarerzeugnisse des Landes. Cheddarkäse wird auch in Ägypten produziert, und der neue unabhängige Gewerkschaftsverband des Landes solidarisierte sich mit den Protesten. Die Rede ist jedoch nicht von einer weiteren arabischen Revolte, sondern von der Protestbewegung in Madison, der sonst etwas verschlafenen Hauptstadt des Bundesstaates Wisconsin im mittleren Westen der USA.
Auf die Unterschiede zu den Protesten im Nahen Osten hat unter anderem der Satiriker Jon Stewart hingewiesen: »Die ägyptischen Demons­tranten riskierten den Tod, die in Wisconsin lediglich, dass man inmitten einer buntbemalten Gruppe von Trommlern steckenbleibt.« Obwohl die Medien aus Madison berichten, dass sich viele der Demonstranten von den Aufständen im Nahen Osten inspiriert fühlten, gehe es nicht um die Demokratie in Wisconsin. Schließlich habe man gerade erst im November 2010 die dortige Regierung gewählt, die nun versuche, die Löhne der öffentlichen Angestellten erheblich zu drücken und obendrein ihre gewerkschaftlichen Rechte einzuschränken. Der Initiator dieser Politik, Gouverneur Scott Walker, habe gut 52 Prozent der Wählerstimmen erhalten, »nicht die 90 Prozent plus X, die Tyrannen üblicherweise bei Wahlgängen bekommen«, sagte Stewart.

Dennoch sind die Proteste in Madison bedeutsam für die politische Entwicklung in den USA. Zeitweilig über 70 000 demonstrierende Mitglieder diverser im öffentlichen Sektor tätiger Gewerkschaften, der Demokratischen Partei nahestehende Protestierende, Schüler aus der Hauptstadt und der umliegenden Region sowie Studierende der öffentlichen Universität in Madison halten seit dem 15. Februar das Kapitol und das angrenzende Areal besetzt. Sie haben nicht nur die Aufmerksamkeit der US-Öffentlichkeit auf sich gezogen. Anfangs herrschte Kritik vor, doch Umfragen zufolge befürworten mittlerweile die meisten Amerikaner die Proteste, die in Wisconsin sogar von mehr als 60 Prozent der Bevölkerung unterstützt werden.
Seit der Präsidentschaft Ronald Reagans in den achtziger Jahren wurden die Gewerkschaften von den Republikanern zurückgedrängt. Die Gewerkschaften repräsentieren nur etwa 14 Prozent aller Lohnabhängigen, und in vielen Bundesstaaten, vor allem im Süden des Landes, existieren sie kaum noch. Nun aber scheint ein Meinungsumschwung eingesetzt zu haben. Ob es allerdings zu einem »Waterloo« für die gewerkschaftsfeindlichen Republikaner kommen wird, wie der linke Kommentator Cenk Uygur hofft, ist noch unklar.
Mit der Unterstützung der Tea-Party-Bewegung haben Scott Walker und seine republikanischen Parteifreunde bei den Wahlen im vergangenen November das Gouverneursamt und die Mehrheit in beiden Kammern des Parlaments von Wisconsin gewonnen. Nun wollen sie ihr Wahlprogramm verwirklichen und den Staatshaushalt radikal kürzen. Gemäß seinen Versprechen will Walker mit Einsparungen im öffentlichen Dienst anfangen, und zwar mitten in den laufenden Haushaltsverhandlungen.
Der entsprechende Gesetzesentwurf liegt vor, vorgesehen ist eine Kürzung der Löhne sowie des Arbeitgeberanteils für die Krankenversicherung der Beschäftigten und ihrer Familien. Auch die Pensionen der meisten Angestellten des öffentlichen Diensts sollen um etwa sieben Prozent gesenkt werden. Betroffen sind davon nicht nur Mitarbeiter in der Verwaltung des Bundesstaats, sondern auch Lehrer, Universitätsangestellte, Polizisten, Feuerwehrleute, Park Ranger, Gärtner und Reinigungskräfte. Dieser Punkt wäre strittig genug, doch die Republikaner wollen weiter gehen. Den Gewerkschaften soll das Recht entzogen werden, für ihre Mitglieder verbindliche Tarifverhandlungen zu führen. Somit versuchen die Konservativen, die letzten Reste der Gewerkschaftsbewegung zu beseitigen. Gelingt das in Wisconsin, dürften andere republikanisch regierte Bundesstaaten diesem Beispiel folgen.

Es geht den Republikanern und der Tea-Party-Bewegung nicht nur um Geld. Die in Wisconsin und den umliegenden Bundesstaaten nach wie vor relativ starken Gewerkschaften unterstützen seit Jahrzehnten die Demokratische Partei. Sie spenden zweistellige Millionenbeträge für den Wahlkampf, überdies wählen Gewerkschaftsmitglieder und ihre Familien seit den dreißiger Jahren mit deutlicher Mehrheit die Demokraten. Obendrein rufen die Gewerkschaften vor allem in vielen urbanen Zentren der USA die demokratische Wählerschaft zur Stimmabgabe auf.
Wenn die üblichen parlamentarischen Gepflogenheiten eingehalten worden wären, hätte das Gesetz bereits die beiden Parlamentskammern passiert. Doch Gouverneur Walker kann es noch nicht mit seiner Unterschrift in Kraft setzen. Denn die Republikaner haben zwar die Mehrheit, die Verfassung von Wisconsin sieht jedoch vor, dass bei Beginn des Gesetzgebungsverfahrens ein Quorum von 75 Prozent der Mandatsträger anwesend sein muss. Dem Gouverneur sind 14 demokratische Abgeordnete des Senats davongelaufen, vor über zwei Wochen flohen sie aus dem Bundesstaat.
Walker würde die abtrünnigen Abgeordneten gerne von der Polizei vorführen lassen, sie halten sich jedoch im angrenzenden Bundesstaat Illinois auf. Dort sind sie dem Zugriff der Polizei von Wisconsin entzogen. Um das Gesetzgebungsverfahren weiterhin zu blockieren, müssen alle im Exil bleiben. Wenn nur ein einziger von ihnen innerhalb der Grenzen Wisconsins erwischt und nach Madison gebracht würde, wäre das nötige Quorum erreicht und die Beschlussfähigkeit hergestellt.
Die Flucht der Abgeordneten mag skurril wirken, doch diese etwas abenteuerlich anmutende Blockadestrategie hat in der US-Politik eine lange Tradition. Zuletzt haben sich im Jahr 2003 demokratische Abgeordnete aus Texas in New Mexico verborgen. Zwar kommt es relativ selten zu einem Parlamentsboykott, zuvor ist im 1848 gegründeten Bundesstaat Wisconsin lediglich vier Mal etwas Ähnliches passiert. Als unschicklich gilt diese Strategie jedoch nicht, denn die Boykotteure können sich auf ein berühmtes Vorbild berufen: Im Jahr 1840 hat der spätere Präsident und Nationalheld Abraham Lincoln auf diese Weise als junger Abgeordneter die Beschlussfähigkeit des Abgeordnetenhauses von Illinois verhindert. Er sprang sogar aus einem Fenster im zweiten Stock des Parlaments und flüchtete in die umliegenden Wälder. Die damals regierenden Demokraten hatten versucht, die Anwesenheit der Abgeordneten durch die Verriegelung der Räume sicherzustellen.

Dass auch Lincoln sich dieser Methode bediente, hindert die Republikaner in Wisconsin jedoch nicht daran, die Flucht der Abgeordneten als schwere Verletzung der Amtspflichten zu kritisieren. Obwohl die Gewerkschaften ihre Kompromissbereitschaft bereits vor knapp zwei Wochen bekundet und mitgeteilt haben, sie würden die Gehaltskürzungen zur Reduzierung des Haushaltsdefizits vorübergehend akzeptieren, schien sich die politische Stimmung zeitweilig gegen die abtrünnigen Demokraten zu wenden.
Doch dann blamierte sich der als Gouverneur noch unerfahrene Walker. Er fiel auf den fingierten Telefonanruf eines Radiomoderators herein, der sich als David Koch ausgab. Der Milliardär, Unternehmer und prominente Gewerkschaftsfeind Koch gehört zu den wichtigsten Finanziers der Tea-Party-Bewegung, auch Walker erhielt von ihm eine Spende in Millionenhöhe. Um einen Lagebericht gebeten, erzählte der Gouverneur devot wie ein Untergebener von seinen Bemühungen. Den Vorschlag »Kochs«, die geflohenen Abgeordneten mit einem Baseballschläger zurückzutreiben, beantwortet er freundlich: »Ich habe einen in meinem Büro. Der würde Ihnen gefallen.« Dass Walker auf den Anruf des vorgeblichen Unterstützers aus der Geschäftswelt reagierte wie ein Laufbursche, könnte den Gewerkschaften helfen, ihre größte Niederlage seit der Reagan-Ära abzuwenden.