Die Kriegsmetaphorik bei Heinrich von Kleist

Babyface und Kriegsmaschine

Vor fast 200 Jahren erschoss Heinrich von Kleist erst seine Freundin Henriette Vogel und dann sich selbst am Kleinen Wannsee. Krieg und Gewalt waren die bevorzugten Themen in Kleists Werk, sein Hass konzentrierte sich auf Napoleon. Anlässlich seines Todestags im November hat vorige Woche das »Kleist-Jahr« begonnen.

Von den wenigen erhaltenen Porträts Heinrich von Kleists blickt uns ein merkwürdig kindliches Gesicht an: ein Babyface, pausbäckig, mit Gesichtszügen, die noch keine Form haben. Dieses gleichsam gesichtslose Gesicht erinnert an einen noch berühmteren Zeitgenossen Kleists – an Napoleon, dessen Porträts dasselbe konturlose, mit Babyspeck wattierte Kinderantlitz zeigen. Diese Ähnlichkeit in der Darstellung ist mehr als das Produkt einer epochentypischen, bürgerlichen Tendenz zur Weichzeichnerei. Wenn, wie der rechte Staatstheoretiker Carl Schmitt behauptet, der Feind »die eigene Frage als Gestalt« ist, mithin als Alteritätsfigur zu begreifen sei, dann hat Kleists Gesicht in dem Napoleons seine Entsprechung gefunden. Nicht nur blickt ihn aus Napoleons Gesicht tatsächlich die eigene Gestalt an, auch die Rede von der Feindschaft hat Sinn – verfolgte Kleist Napoleon doch mit einem wütenden, fast besessenen Hass. Mit aller Sprachmacht schlägt er auf seinen Feind und Doppelgänger ein.
Nicht Johann Wolfgang von Goethe ist, entgegen seinem Selbstbild und dem inszenierten Gipfeltreffen von Geist und Macht, der Napoleon der Literatur, sondern Kleist. Oder: Wenn Goethe der Napoleon der Literatur (der Kaiser) ist, dann ist Kleist der Bonaparte der Literatur (der Feldherr). Was ihn mit Bonaparte verbrüderte, ist gerade der Krieg, das universelle Prinzip der Feindschaft. Während sich Goethe statuarisch in antike Formen goss, waren sowohl Napoleon als auch Kleist vor allem Zerstörer alter Formen: bedingungslose Neuerer und, wie alle Neuerer, destruktive Charaktere.

Ihr destruktives Talent zeigt sich dabei paradoxerweise zunächst in der Fähigkeit zur Mobilisierung. Nach Marx macht der frühe Kapitalismus aus sesshaften Bauern Arbeitsnomaden, die von Fabrik zu Fabrik ziehen. Dementsprechend macht Napoleon aus französischen Bauern Soldaten, die in virtuosen Bewegungsmustern von Schlacht zu Schlacht ziehen. Kleist schließlich mobilisiert die Literatur, bricht die alten Formen auf, entwickelt einen atemlosen Erzählduktus. Er transformiert die Buchstaben von einer Armee der »Stäbern-Festgestellten«, wie Immanuel Kant in »Der Streit der Fakultäten« die Stabilität von Buchstaben bezeichnete, zu mobilen Einsatzkommandos und ruft die allgemeine Wehrpflicht der Worte aus. Oft ist diese ebenso virtuose wie gehetzte Rhythmik seiner Prosa hervorgehoben worden, in der die Zeichen wie Soldaten in Napoleons Bewegungs-Armee über die Seiten ziehen, ruhelos und marodierend.

Die Gewalt war Kleists bevorzugtes Thema. Sie reicht aber über die rein inhaltliche Ebene hinaus und affiziert auch die Form seines Erzählens. Kleist beschreibt die Gewalt nicht nur – all die zerquetschten Gehirne, Erdbebenkatastrophen, Vergewaltigungen, zerfleischten Körper –, sondern seine Sprache ist selbst gewalthaft: räubernde Feldzüge im Reich der Zeichen. Diese Gewalt hat kein Ende, weil sie das Ziel selbst ist. Immer wieder laufen Kleists Erzählungen und Dramen auf diesen Moment der gewalthaften Öffnung, des Aufbrechens des Körpers (des beschriebenen ebenso wie des Textkörpers) zu, genauso, wie sie von diesem Moment ausgehen. Auf diese Weise inszeniert Kleist, zum Beispiel im »Michael Kohlhaas«, einen Teufelskreis der Gewalt, besser noch eine Teufelsspirale, die sich steigert, bis nichts mehr übrig ist, was noch zu verzehren wäre – eine Politik der verbrannten Worte.
Es ist Gilles Deleuze und Félix Guattari zu verdanken, dass sie dieses grundsätzlich Kriegerische an Kleist – und zwar jenseits nationaler Vereinnahmungen – auf den Begriff gebracht haben. Für sie ist Kleist das Paradebeispiel einer nomadischen Kriegsmaschine, die sich gegen einen territorialen Staatsapparat (im literarischen Feld zum Beispiel: Goethe) stellt und ihn zu unterminieren sucht. Diese Interpretation ist natürlich zu einseitig und zu schematisch; dazu war Kleist  – als langjähriger Beamter im Finanzministerium und später als preußischer Wirtschaftsspion, der in Frankreich verhaftet wurde – auch im realen Leben zu eng mit dem Staatsapparat verknüpft. Allerdings kann man am Beispiel Kleists lernen, wie mit den Mitteln des Staatsapparats (der Beherrschung der Formen) eine Kriegsmaschine (eine Formen aufsprengende Bewegung) generiert werden kann. Auf eine ähnliche Weise hat zur gleichen Zeit der preußische Offizier Carl von Clausewitz Staatsapparat und Kriegsmaschine verknüpft – nämlich indem er, geschult am spanischen Widerstand gegen Napoleon, der preußischen Armee eine Partisanentaktik empfahl.
Das alles ist natürlich zu viel für traditionelle Literaturrezensenten – und zwar sowohl für die konservativen Kanoniker, die sich an Formen festhalten wollen, statt sie unter den Füßen weggezogen zu bekommen, als auch für die klassische linke Literaturtheorie, die, zum Teil aus guten Gründen, mit der besessenen Gewaltaffirmation nichts anfangen konnte und in Verbindung mit der nationalen Rhetorik jener Zeit sofort Kryptofaschismus witterte. Um Kleist trotzdem irgendwie für den Kanon zu retten, wurden diverse Anstrengungen unternommen, die Virulenz seiner manischen Gewaltbesessenheit in gemäßigtere Formen zu übersetzen. Zu der größten Prominenz hat es dabei die sogenannte Kant-Krise gebracht, die sich auf Kleists Satz stützt, »wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten«, wäre die Welt grün. Na und? Sie ist ohnehin schon ziemlich grün. Um auf die Idee zu kommen, jemand könne sich wegen Kants »Kritik der reinen Vernunft« umbringen, muss man schon ein deutscher Gelehrter sein. Wenn ein Dichter verzweifelt, dann auf erkenntnistheoretisch hohem Niveau – statt grüner Gläser scheint hier eher die rosarote Brille der geistigen Existenz durch. Tatsächlich ging es Kleist natürlich nicht um irgendwelche erkenntnistheoretischen Fragen, sondern um die Entfesselung – um eine Entfesselung, die wie jede totale Mobilmachung mit dem eigenen Tod enden muss. Und wie jede Entfesselung ist auch diese ambivalent. Einerseits interessant, weil ihre Radikalität und Konsequenz etwas zu Tage bringt, das sonst verborgen ist. Andererseits aber auch gefährlich, weil diese Offenlegung der Fundamente einen Abgrund aufreißt, der nicht mehr zu schließen ist. In Nietzsches Worten, der nicht nur darin ein Nachfolger Kleists war: Wenn du zu lange in den Abgrund blickst, blickt der Abgrund in dich hinein. Die Gefahr der Entfesselung liegt darin, dass die von ihr ausgelöste destruktive Bewegung kein Halten mehr kennt: ein Krieg ohne Friedensvertrag.

Wie aber passt diese ganze Kriegstreiberei zum Babyface, zum ewig kindhaften Gesicht? Bestens. Denn die Grausamkeit ist nur die andere Seite, vielleicht auch nur ein anderes Wort für die seit der Romantik mit der Kindheit assoziierte »Unschuld«. Dass sein Gesicht keine Form gefunden hat, sondern kindhaft-ungeformt blieb – das ist gewissermaßen der Ausdruck für die Deformation, die beständige Formauflösung und -zerstörung der Gewalt. Kleist erscheint so als eine der unzähligen Varianten von Heraklits Weltkind, das mit aller unschuldigen Grausamkeit spielt und spielend immer wieder jede Ordnung zerstört. In diesem Feld ist die oft zitierte Ununterscheidbarkeit von »Küssen« und »Bissen« noch die harmloseste. Ihr zugrunde liegt die Ununterscheidbarkeit von naivem Spiel und tödlichem Ernst, die Kleist schließlich in den Selbst- und Weltverlust trieb. Erst damit hatte sich der Kreis der Gewalt geschlossen, und Kleists Kriegsmaschine konnte von der Kulturindustrie vereinnahmt werden. Es kann nicht darum gehen, Kleist aus dieser Vereinnahmung zu befreien, um sich an einer vermeintlich ursprünglichen anarchischen (Sprach-)Gewalt zu berauschen. Das hieße nur, eine Sehnsucht zu reproduzieren, die immer schon Teil der Kulturindustrie war. Stattdessen gilt es zu zeigen, wie Kleists Literatur, wie jede Literatur, die ernst machen will, zwischen den beiden Polen des Staatsapparats und der Kriegsmaschine lavieren muss, zwischen der Besetzung und Behauptung eines Territoriums und ihrer grenzüberschreitenden Auflösung. Gerade weil Kleist dieses Lavieren biographisch nicht gelungen ist, vermag er diesen Kampf exemplarisch zu verkörpern. Am Ende wurde er selbst das Opfer des Krieges, dem er sich verschrieben hat – darauf war die Bewegung von vorneherein angelegt. Denn nur aufgrund dieses exemplarischen Opfers konnte er das ewige Kind bleiben, als das er uns heute anblickt, einer der großen Nicht-Festgestellten der Literaturgeschichte.