»Ein Stück Demut«

Zynismus ist die krisensichere Währung der Konformisten. Angesichts der Katas­trophe in Japan wird von ihr in Deutschland ausgiebig Gebrauch gemacht.

Samstagnachmittag in der DVD-Abteilung eines Berliner Kaufhauses: Der Preis von Roland Emmerichs Katastrophenfilm »2012«, in den vorangegangenen Wochen für gerade mal 6,99 Euro feilgeboten, war auf 9,99 Euro gestiegen. Die seit dem Vortag von den Fernsehsendern gezeigten Bilder aus dem japanischen Katastrophengebiet hatten den Anschein erweckt, dass die Realität die apokalyptische Fiktion eingeholt habe. Doch in der DVD-Abteilung stellte sich heraus, dass es anders war. Die verwackelten, aber »authentischen« Reality-Movies, von »Betroffenen« mit ihren Video- und Handykameras geliefert, dürften zwar am Freitagabend für wohlig-schauriges Entsetzen beim deutschen Fernsehpublikum gesorgt haben. Doch ihnen war inzwischen offenbar wieder ihre übliche Funktion zugekommen: als Werbeträger für den wahren Schauder zu dienen, den anscheinend nur fiktionale Produkte zu erzeugen vermögen.

»Ditt nenn’ ich ’ne echte Katastrophenrendite, wa«, verkündete ein junger Mann, die Emmerich-DVD schwenkend, gegenüber seinen Begleitern. Darauf antwortete einer sogleich auf Schwäbisch: »Also, des find’ ich doch arg ’n bissl zynisch, wasch du da sachst.« – »Wat heißt’n hier zynisch, ey«, wehrte sich der Gescholtene mit einer ausladenden Armbewegung.
Nur wenige Stunden zuvor war auf der Website des Berliner Tagesspiegel Folgendes zu lesen gewesen: »Für viele Menschen in Japan war es ein schwarzer Freitag, aber für die Welt des Geldes ein Tag, der nur einen kurzen Moment lang aus dem aktuellen Einerlei von Quartalsdaten und Sorgen um das libysche Öl hervorstach.« War das zynisch? Eigentlich nicht, denn der Autor hatte ja in vorbildlich objektiver Weise die Welten »der Menschen« und »des Geldes« getrennt und die unterschiedlichen Bedürfnislagen skizziert.
Dies war eine völlig andere Vorgehensweise, als sie beispielweise Theodor Fontane vor knapp 140 Jahren in »Die Brück’ am Thay« vorgeführt hatte: In der Ballade machte er ein schockierendes Eisenbahnunglück nicht nur zur Kulisse persönlicher Konflikte, sondern versah es auch mit dem Geraune der Hexen aus Shakespeares »Macbeth«, um so die gebildete Leserschaft mit der Fratze eines gleichermaßen niederträchtigen wie unausweichlichen Schicksals zu konfrontieren. So weit würde ein Autor des Tagesspiegel nie gehen, deshalb spaltet er eigene Anwandlungen von Zynismus gekonnt ab und macht aus ihnen eine grandiose Apotheose der Marktwirtschaft: »So zynisch die Märkte damit sein mögen, sie haben doch recht: Die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt geht nicht unter, der Wiederaufbau birgt auch gewaltige Chancen.«
Zyniker können mit ihrem herablassenden »Tja, so ist das nun mal« durchaus sachlich im Recht sein. Aber auch dem Dichter Fontane wird bis heute bescheinigt, moralisch im Recht gewesen zu sein, als er, voller Skepsis gegenüber den Heilsversprechen des angebrochenen Industriezeitalters, seinen Hexen ein »Tand, Tand, ist das Gebilde von Menschenhand!« in den Mund legte, was wiederum in hohem Maße zynisch war.
Zynismus ist einer zutreffenden und einst unter Gesellschaftskritikern geläufigen Definition zufolge die Verdoppelung des Leids der vom Unheil Geschlagenen, die diesen scheinbar sachlich die Notwendigkeit des Widerfahrenen vor Augen führt. Zynismus ist so die krisensichere Währung des Konformismus: Alles ist so gekommen, weil es so kommen musste, weil man sowieso nichts ändern kann, weil Gott, die Natur (gern auch die menschliche), die Konjunktur, das notwendig verbleibende Risiko etc. es so gefügt haben.

Kein Zynismus hingegen ist der Verweis auf Ursachen und ihre Wirkungen: Wer auf den Zusammenhang von Arbeitsfleiß und Rationalisierung sowie das daraus entstehende materielle Elend des bald unnützen Fleißigen hinweist, auf die notwendigen Folgen demokratischen wie islamistischen Engagements in Form von Kriegen, auf die Resultate der Vernachlässigung des durch nüchterne Beobachtung Naheliegenden zugunsten ökonomischer »Sachzwänge« in Form ökologischer Desaster, ist nicht Zyniker, sondern Kritiker mit emanzipatorischer Absicht. Ob allerdings der junge Berliner, der nun eine Emmerich-DVD besitzt, Zyniker oder Kritiker ist, muss offen bleiben, die Statistik dürfte wohl für einen Zyniker sprechen.
Zynismus als Affirmation des Elends laufender Ereignisse paart sich hierzulande angesichts der japanischen Katastrophe mit Frechheit. »Wir sehen mit Schrecken, wie ein Erdbeben, wie ein Tsunami, wie zwei Urgewalten der Natur eines der höchstentwickelten Länder in die Katastrophe führt«, sagte die Bundeskanzlerin in einer Stellungnahme vor der Presse am Samstag. Nicht die scheußliche Grammatik macht hier die Frechheit aus, sondern das Schwadronieren über »Urgewalten«.
Diese sind offenbar selbst im Land der »Sicherheitsverwahrung« nicht zu kontrollieren, wie die Süddeutsche Zeitung am gleichen Tag mit einer eigenen »Ur«-Kreation bestätigte: »Die urmenschlichen und in Rechtsstaaten zur Perfektion getriebenen Mechanismen von Verantwortung und Bestrafung sind außer Kraft. Die Natur lässt sich nicht zur Verantwortung ziehen.« Urmensch versus Urgewalt – das kann nur in einer Katastrophe enden, wenn auch zunächst in einer grammatikalischen. So fuhr die Bundeskanzlerin fort: »Ja, und wir sehen auch, dass wir an dieser Stelle ein Stück Demut und Ehrfurcht vor der Natur haben müssen.«
Man könnte nun auf den autoritären Charakter einer solchen »Naturphilosophie« verweisen, indem man beschriebe, wie die europäische Aufklärung ein imaginäres Wesen »Natur« anstelle des monotheistischen Gottes inthronisierte und damit auch den alttestamentarischen Hiob mit seinem rhetorischen Sieg über den göttlichen Herrscher zur reinen Erscheinung des Zufalls degradierte, zum närrischen Idioten, der ausnahmsweise einmal spätes Glück hatte: Es ist nun mal so, wie es ist. Man könnte aber auch die Primi­tivität des Denkens der deutschen Kanzlerin herausstellen: »Wir wissen, dass wir weder von derart schweren Erdbeben noch von derart gewaltigen Flutwellen bedroht sind. Trotzdem: Das, was wir aus den Abläufen in Japan lernen können, das werden wir lernen.« Die intellek­tuelle Leistung, die diesen Äußerungen zugrunde liegt, ist bescheiden. Doch die Sätze sind Zynismus pur.

Weit ungenierter noch als die Politik darf sich der Journalismus gebärden. »Der Statistik zufolge stehen die japanischen Inseln nach einer Katas­trophe wie dieser nun nicht mehr weit oben auf der Liste. (…) San Francisco ist dran, sagen die Erdbebenforscher. Und weit vorne: die Millionenmetropole Istanbul. Doch es bleibt wie im Spielkasino: Vielleicht knallt es erst in 200 Jahren. Vielleicht morgen«, schreibt die Süddeutsche Zeitung. Die Frage, ob vielleicht schon seit längerer Zeit in Japan etwas schiefgelaufen ist, stellen sich wenige. Wäre nicht bei mehr als 10 000 Toten – die Zahl steigt gegenwärtig kontinuierlich – ein Nachdenken über die bisherige Industrialisierungs- und Infrastrukturpolitik erforderlich? Nicht unbedingt, lautet hierzulande bislang der Tenor in der öffentlichen Diskussion. Der Text aus dem Tagesspiegel endet mit dem bezeichnenden Credo: »Japan ist zu wünschen, dass es im Wiederaufbau zu gesellschaftlichem Konsens und neuer Stärke findet. Neben der Anteilnahme wäre dem fernen nahen Land der Respekt der Deutschen sicher.« Die »Achse« lässt schön grüßen.