Die Bilder aus Fukushima als transmedialer Kulturschock

Das Fremde blickt zurück

Man liebt Mangas und geht ab und zu in die Sushi-Bar. Aber seit Fukushima ist klar, dass Japans Kultur einem doch nicht so vertraut ist, wie man dachte. Andreas Hartmann über einen trans­medialen Kulturschock.

Die spinnen, die Japaner. In Deutschland sind die Geigerzähler ausverkauft, und man hat sich bereits mit Jodtabletten eingedeckt, während in Tokio angeblich alle ruhig und gelassen bleiben, obwohl um die Ecke die Atomreaktoren kokeln. Wie sind die denn bitte drauf, die Japaner? Alle Welt starrt wie gebannt auf ein Land, das den Westen schon lange fasziniert und das man kein bisschen versteht, obwohl es uns vom Lebensstandard viel näher ist als die Katastrophengebiete in vergleichsweise armen Ländern, um die es sonst meistens geht.
Japan ist uns vertraut und fremd wie kein anderes Land auf der Erde. Seit Jahrzehnten verwandelt Japan westliche Popkultur in etwas eigenes, das als Re-Import längst so wirkmächtig ist wie das, was die westliche Kulturindustrie so ausspuckt. Hello Kitty, Super Mario, Mangas, all das gehört längst zu unserer Alltagskultur wie Donald Duck oder die Beatles. Dazu kommen das radioaktive Atomungeheuer Godzilla, Sudoku und der auch bei uns immer populär werdende J-Pop samt seinen Angeboten für exzentrische Rollenspiele.
Japan bleibt das Land, das hat die Katastrophe in Fukushima bewiesen, das trotz des intensiven Kulturtransfers so exotisch auf uns wirkt, dass man erst gar nicht versucht, es wirklich zu verstehen, und das man deswegen erst recht exotisiert. Die Geisha, der Samurai, die Sex-Mangas, all das bleibt Ausdruck einer schillernden Kultur, deren Funktionsweise einfach un­ergründlich zu sein scheint. Auch liebevolle Annäherungen an Japan, etwa Sophia Coppolas Film »Lost In Translation«, zeigen vor allem ein Land, das einen von Kulturschock zu Kulturschock taumeln lässt, ein Land, in dem dem West­ler beispielsweise die Duschen zu niedrig sind. Oder in dem groteske Sammelfreaks die bizarrsten Interessengebiete beackern, wie Jean-Jacques Beineix in seiner Dokumentation »Otaku« zeigt, in der Japan wie eine geschlossene Anstalt wirkt.
Japan und seine Kultur sind bei uns längst so allgegenwärtig wie Sushi-Restaurants in deutschen Kleinstädten, und trotzdem bleibt Japan das Land, in dem es einen Begriff für »Tod durch Überarbeitung im Büro« gibt, in dem Heidi aus den Schweizer Bergen ein Popstar ist, in dem man die Suppe laut schlürft und schlabbert und in dem es gebrauchte Slips von Schulmädchen in Automaten gibt. Dabei ist Japan noch viel irrer, als Sie dachten. Hier ein paar Beweise.
Blutgruppendeutung: Das Deuten der Blutgruppe ist dem Japaner das, was uns die Tierkreiszeichen sind. Wer beispielsweise die Blutgruppe A hat, gilt als ehrlich und kreativ, neigt aber auch zu Sturheit und Konservatismus. So wie bei uns manche Paare mit Neigung zum Esoterischen nur zueinander finden, wenn ihre Sternzeichen zusammenpassen, muss in Japan die Blutgruppe stimmen, wenn aus dem Date etwas werden soll. Auch über die Blutgruppe seiner liebsten Mangafiguren weiß der Otaku natürlich Bescheid.
Haruurara: Wir hatten Paul die Krake und trauern gerade um Knut, so dass uns jetzt nur noch dieses nervige Oppossum mit Augenfehler bleibt, wollen wir weiterhin als Nation exzentrischer Tierliebhaber gelten. Aber auch bei der Liebe zu krudem Viehzeug haben die Japaner die Nase vorn. Paul war eher der Siegertyp, schließlich war er ein mindestens so gutes Orakel wie das von Delphi, Knut war von unangenehmer It-Girl-artiger Prominenz, er war vor allem berühmt für sein Berühmtsein. Haruurara wirkt da viel sympathischer. Haruurara ist ein japanisches Rennpferd, das in seiner Heimat kultisch verehrt wird, weil es der totale Loser ist, was ungewöhnlich wirkt für ein Land, in dem Erfolg zu haben wahrscheinlich eine noch stärkere Staatsreligion ist als bei uns. In über 100 Rennen hat Haruurara nie etwas gewonnen, das Pferd bringt einfach nichts, gilt inzwischen in Japan aber trotzdem oder deswegen als Glücksbringer und macht sogar Werbung für eine Biermarke.
Konaki-Sumo: Hier handelt es sich um einen Brauch, bei dem dicke Sumo-Ringer auf Volksfesten von jungen Müttern ihre Babys hingehalten bekommen. Die Riesen nehmen die Kleinen in die Arme und werfen sie so lange in die Luft, bis diese zu weinen anfangen. Wer weint, wächst schneller und wird kräftiger, glaubt man in Japan.
Toiletten: Wichtiges Thema in Japan. Toiletten sind dort nicht nur einfach »stille Örtchen«, sondern technische Wunderwerke, die wirken, als stecke in ihnen Nasa-Technologie. Die Klo­deckel sind beispielsweise gerne auf Körpertemperatur vorgeheizt. Noch fortschrittlichere Toiletten verfügen über automatische Klodeckelanheber, Klimaanlagen, Warmluftgebläse und einstellbare Wasserstrahlen.
In öffentlichen Toiletten findet sich außerdem oft eine Funktion, die sich »Geräuschprinzessin« nennt. Diese simuliert das Geräusch einer Klospülung und überdeckt damit die Laute, die beim menschlichen Wasserlassen entstehen und die vielen Japanern angeblich peinlich sind.
Die spinnen wirklich, die Japaner.