Über Kriegsdienstverweigerer in der Türkei

Das Recht, Nein zu sagen

Halil Savda ist ein Pazifist und Kriegsdienstverweigerer. Für den türkischen Staat ist er ein Feind. Nach jahrelangem Kampf um seine Wehrdienstverweigerung wurde er wegen »Entfremdung des Volkes vom Militärdienst« zu einer Haftstrafe verurteilt. Obwohl die Kritik am Militär in der Türkei tabu bleibt, wird die Bewegung der Kriegsdienstverweigerer immer größer.

»Ich fordere euch nochmals auf: Geht nicht zur Armee! Ohne Wenn und Aber, ohne zwischen gerechten oder ungerechten, schmutzigen oder sauberen Kriegen zu unterscheiden. Ich sage offen und deutlich, dass alle bewaffneten Organisa­tionen und alle Kriege schlimm sind.« Mit diesen Worten machte sich Halil Savda im August 2006 strafbar. Auf einer Kundgebung in Istanbul solidarisierte sich damals der bekennende Kriegsdienstverweigerer öffentlich mit den israelischen Soldaten Itzik Shabbat und Amir Pastar, die sich kurz zuvor geweigert hatten, am Krieg gegen den Libanon teilzunehmen. Die Folge war ein Prozess nach Artikel 318 des türkischen Strafgesetzbuches, der für die »Entfremdung des Volkes vom Militärdienst« Haftstrafen bis zu viereinhalb Jahren vorsieht. Es handelt sich um ein Gesetz, das offene Kritik an der Armee unmöglich macht, ähnlich wie der Artikel 301 zur »Verunglimpfung des Türkentums«.

Nur wenige lehnen öffentlich den Militärdienst ab, zu dem alle männlichen Staatsbürger der Türkei zunächst ausnahmslos eingezogen werden. Die Zeit bei der Armee gilt für den türkischen Mann als Eintritt in eine Existenz als erwachsener und berufstätiger Staatsbürger, und eben als wesentlicher Bestandteil der männlichen Identität. In dem Land, das sich aufgrund der Situa­tion in den kurdischen Gebieten im permanenten Kriegszustand befindet und in dem das Exerzieren schon in der Grundschule geübt wird, wird der Militärdienst in der Bevölkerung akzeptiert, wenn auch mit gemischten Gefühlen, testosterongeladenem Stolz und dem Gefühl, ein notwendiges Übel hinnehmen zu müssen. Doch viele versuchen, sich zu entziehen. Die Zahl der türkischen Staatsbürger, auf die die Kasernen bisher vergeblich warten, beläuft sich laut einer parlamentarischen Anfrage aus dem Jahr 2008 auf mehrere hunderttausend. Den Ausweg erhoffen sich viele von ihnen durch ein Untauglichkeitsgutachten, die Flucht ins Ausland, ein möglichst langes Studium oder die Desertion. Zu offiziellen Kriegsdienstverweigerern erklärten sich in den vergangenen 20 Jahren gerade einmal 100 junge Männer.

Auch Halil Savda desertierte, weil er es beim Militär »einfach nicht aushielt«. Im Jahr 1996 wurde er zum ersten Mal eingezogen, er war damals 22 Jahre alt. Er führt seine Ablehnung des Militärs auf seine Erlebnisse in den kurdischen Gebieten zurück: »Als ich ein Kind war, wohnten wir gegenüber einer Gendarmeriewache. Direkt nach dem Militärputsch von 1980 sah ich, wie alle Männer, die in den umliegenden Dörfern festgenommen worden waren, im Garten der Wache nackt festgehalten wurden.« Die täglichen Erfahrungen von Gewalt und Folter, später auch am eigenen Leib, hätten ihn in den neunziger Jahren zu einem Mitglied der militanten kurdischen Opposition gemacht, erzählt Savda. Nach sieben Jahren Haft aufgrund seiner Mitgliedschaft in der PKK verließ er im Jahr 2004 das Gefängnis schließlich als überzeugter Pazifist und erklärte sich offiziell zum Kriegsdienstverweigerer. Da das türkische Recht diesen Begriff jedoch nicht kennt, werden die Verweigerer in den meisten Fällen wegen »Befehlsverweigerung« angeklagt und nach Artikel 318 verurteilt.
Savda wurde nach mehreren Gefängnisaufenthalten und Prozessen im Jahr 2008 schließlich ausgemustert. Aus rechtlicher Sicht bedeutete das für ihn das Ende jenes Zustandes, der in der Türkei als »ziviler Tod« bezeichnet wird und in dem sich jeder wiederfindet, der die Zeit beim Militär nicht absolviert hat. Wer als Deserteur gilt, kann weder eine reguläre Arbeit finden noch heiraten, eine Versicherung abschließen, reisen oder die eigene Stromrechnung bezahlen. Hinzu kommt die soziale Ächtung. Früher mussten viele Verweigerer jahrelange Odysseen in diesem Zustand durchmachen, inzwischen wird in der Regel nach einem Jahr oder zwei Jahren ein Untauglichkeitsgutachten ausgestellt. Savdas Diagnose lautete: »antisoziale Persönlichkeitsstörung«.
Das Zusammenwirken von Militarismus, Sexismus und Nationalismus mache Kriege möglich, davon ist Savda überzeugt. Die Zukunft der kurdischen Bevölkerung dürfe nicht auf militärischem Wege entschieden werden. Das ist jedoch nicht die einzige Frage, in der sich die Mitglieder der inzwischen sehr heterogenen Bewegung der Verweigerer, zu der sich anfangs vor allem Anarchisten zählten, uneins sind. Im Jahr 2007 begründete Enver Aydemir seine Verweigerung etwa damit, er wolle nicht der Armee eines säkularen Staates dienen. Mehrere Dutzend Frauen haben ihre Verweigerung erklärt, auch wenn sie nie einen Einziehungsbescheid erhalten werden. Die Liste der »Kurdischen Verweigererbewegung« zählte nach nur wenigen Monaten über 200 Mitglieder – das ist derzeit die Hälfte aller offiziellen Verweigerer, deren Anzahl seit vergangenem Jahr schneller ansteigt.

Doch die Deutlichkeit, mit der die jüngsten Debatten um eine Reform der Wehrpflicht abgebrochen wurden, bestätigt, dass Kritik am Militär in der Türkei tabu bleiben soll. Den Vorschlag der Regierungspartei AKP, Militärflüchtlinge der älteren Generation gegen Zahlung eines umgerechnet vier- bis fünfstelligen Eurobetrages zu begnadigen, lehnte das Militär ab. Die Initiative, die Dienstzeit anzugleichen, die sechs Monate für Universitätsabsolventen und 15 Monate für alle anderen beträgt, wird vermutlich scheitern. Die Entscheidung über den Wehrdienst unterliegt nicht allein dem Konflikt zwischen dem Militär als repressivem Befürworter kemalistischer Staatsmaximen und der konservativ-islamischen Regierungspartei AKP. Zwar ist die AKP dafür bekannt, den politischen Einfluss der Armee zurückdrängen zu wollen. Die umfangreichen Verhaftungswellen im Ergenekon-Prozess machten vor ranghohen Militärs nicht halt. Doch diese Vorgänge, so durchschlagend ihr psychologischer Effekt im Kontext der Republikgeschichte auch war, ändern nichts an der staatstragenden Rolle der Armee, des Krieges im Südosten des Landes und des Wehrdienstes. Die einzige derzeit geplante Reform wird eine Aufrüstung mit sich bringen. Die Regierung kündigte die Schaffung einer Berufstruppe von 50 000 Soldaten für den Einsatz in Konfliktgebieten an.
Dieser scheinbaren Unantastbarkeit zum Trotz erhofft man sich in der Bewegung der Kriegsdienstverweigerer eine Veränderung. Zwar werden Fälle wie der des Verweigerers Osman Murat Ülke (Jungle World, 30/07), der beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Klage wegen Folter einreichte, in der Regel positiv beschieden. Doch der Gerichtshof sieht sich nicht berufen, die als »innere Angelegenheit« verstandene Kriminalisierung der Opposition zum Wehrdienst zu kritisieren. Allein für die als unverhältnismäßig beurteilte Form der Strafe wurde der türkische Staat im Jahr 2006 verurteilt. Halil Savda, der nach Artikel 318 voraussichtlich bald fünf Monate im Gefängnis verbringen wird, spekuliert auf die wachsende Zahl der Verweigerer: »Um die Kriege zu beenden, muss man sich weigern, Kanonenfutter zu sein.«