Über den Hartz-IV-Kompromiss

Die Botschaft macht mürbe

Der Hartz-IV-Kompromiss zeigt: Angesichts der »Schuldenbremse« und der defizitären Haushalte, aber auch ihrer eigenen Passivität drohen den Arbeitslosen weitere Sparmaßnahmen und ein fortschreitender gesellschaftlicher Ausschluss.

»Lass stecken!« hätte man dem Vermittlungsausschuss zurufen können, als Ende Februar der Kompromiss zur sogenannten Hartz-IV-Reform ausgehandelt wurde: Fünf oder elf Euro mehr im Monat? Und dazu der Kontrollapparat »Bildungspaket« (Jungle World 6/11)? Die paar Euro mehr taugen allenfalls dazu, die Empfänger aufs Neue zu demütigen.
Auch der Kompromiss wird vermutlich dem Bundesverfassungsgericht angetragen werden, wie beispielsweise das Erwerbslosenforum erwartet. Irgendwann dürfte Hartz IV dann doppelt und dreifach verfassungsrechtlich geprüft worden sein. Dabei hat sich die Regierung – so knauserig, wie es geht – an das Urteil vom Februar 2010 gehalten, dessentwegen die Neuberechnung der Sätze nötig wurde. Lässt man die wohlklingende Prosa vom »Mindestmaß an Teilhabe« weg, so bleibt nichts am Urteil, das die Politik unterschlagen haben könnte. Schließlich sollte nach Ansicht der Richter nur der Weg der Berechnung transparenter werden.

Ende Februar stimmten die Mehrheiten im Bundestag und Bundesrat der Vorlage des Vermittlungsausschusses zu. Die 4,7 Millionen erwachsenen Empfänger des Arbeitslosengelds II erhalten demnach fünf Euro mehr im Monat und ab 2012 weitere drei Euro zusätzlich, also etwa 16 Cent mehr pro Tag. Weiter gibt es für 2,5 Millionen bedürftige Kinder die Möglichkeit, Geld aus dem »Bildungspaket« mit 1,6 Milliarden Euro zu beantragen. Die finanzielle Hilfe kann einen Wert von 250 Euro pro Kind im Jahr haben – wenn alles richtig beantragt und nachgewiesen wird. Etwa 135 Millionen Euro sind für den Verwaltungsaufwand nötig, weil man die Unterstützung nicht einfach als höheren Regelsatz ausbezahlen will.
So haben sich die Eltern für jeden Zuschuss mit Antrag und Beleg an das Amt zu wenden. Ein Beispiel: Einen Zuschuss für private Nachhilfe gibt es nur, wenn die Schule den Eltern bestätigt, dass zum einen an der Schule selbst dieser Nachhilfeunterricht nicht angeboten wird und zum anderen der Nachhilfeunterricht für den Schüler sinnvoll ist, weil dieser versetzungsgefährdet ist und die Förderung die Versetzung wieder möglich macht. Wenn die Eltern erfolgreich nachgewiesen haben, dass diese Bedingungen erfüllt sind, kann ein Gutschein gewährt werden. Mit Pech erhalten Alleinerziehende allerdings ganz andere Post, in der das Jobcenter nachfragt, ob nicht der andere Elternteil die Nachhilfe begleichen könne und wie es bei diesem um die finanziellen Verhältnisse bestellt sei.
Die Eltern, denen ein Zuschuss bewilligt wird, müssen dann mit Gutscheinen auskommen, anstatt den Nachhilfeunterricht mit Geld zu begleichen. Die vorgebliche Unterstützung versetzt sie so in den Status unselbständiger, vom bürgerlichen Wirtschaftskreislauf ausgeschlossener Subjekte.

Angesichts solcher Maßnahmen zur vermeintlichen Förderung von Benachteiligten verwundert es nicht, dass auch drastische Einsparungen vorgesehen sind: So werden erwachsenen Behinderten, die in einer Wohngemeinschaft oder bei den Eltern leben, 20 Prozent des Regelsatzes gestrichen, weil sie sich nach Meinung der Gesetzgeber »in aller Regel« nicht an den Haushaltskosten beteiligen müssen. Dabei benötigen die meisten Behinderten mehr Hilfsmittel, als sie aus dem Unterhalt und anderen Ansprüchen finanzieren können. Auch für die Angehörigen ist das Zusammenleben mit besonderen Kosten verbunden. Nach großer Kritik ist die Regelung selbst in der Regierungskoalition umstritten. Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Hubert Hüppe (CDU), fordert eine Überprüfung.
Beachtenswert sind auch andere Details der Reform. Bislang konnte ein Hartz-IV-Empfänger die Überprüfung der Leistungsbescheide innerhalb einer Frist von vier Jahren verlangen. So ließen sich unter anderem Nachzahlungen bei zu geringen Leistungen oder unrechtmäßigen Sanktionen erwirken. Diese Frist wurde auf ein Jahr verkürzt. Die Belehrung über die Rechtsfolgen, die bisher jedem Empfänger persönlich zustand, bevor Sanktionen ausgesprochen werden konnten, ist nun nicht mehr nötig. Es genügt, wenn die Belehrung irgendwo im Jobcenter aushängt.
Die Ergebnisse der Reform wurden in den Medien und der Öffentlichkeit routiniert zur Kenntnis genommen. Kritik kam von Sozialverbänden und Linken. »Weiterhin werden Hartz-IV-Bezieher schlechter behandelt als Vieh« – in dieser Art äußerten sich Betroffene, doch ihre Wut drang kaum über die Blogosphäre hinaus. Dabei hätten das Urteil vom Februar 2010 und die darauf folgenden Diskussionen und Verhandlungen Anlass für die Millionen Hartz-IV-Empfänger geboten, öffentlich die Verbesserung ihrer Lage zu fordern.
Dass die Arbeitslosen das nicht ausreichend geschafft haben, verheißt nichts Gutes für die weiterhin zu erwartenden Sparmaßnahmen. Die sogenannte Schuldenbremse und die miserable Haushaltslage dürften dafür sorgen, dass die Suche nach Möglichkeiten des Sparens jährlich neu beginnt. Die Hartz-IV-Empfänger gingen bei der Erhöhung des Kindergeldes im vergangenen Jahr leer aus, ohne dass sie dagegen protestiert hätten, auch den Verzicht des Elterngelds und der Rentenzuschüsse nahmen sie klaglos hin. Die Neuberechnung des ALG II führte auch dazu, dass 19,10 Euro im Monat für Tabakwaren und Alkohol gestrichen wurden, also eine Kombination von Sozialkürzung und Disziplinierung, die mustergültig für repressive Sozialpolitik ist. Der Regelsatz für Kinder wurde sogar noch einige Euro niedriger angesetzt als zuvor und soll bis 2015 nicht angehoben werden. Als nächstes könnte es dazu kommen, dass die Kommunen die Mietobergrenze senken. Und Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt schlägt derzeit vor, die Dauer des Bezugs von ALG I zu verkürzen. Doch die Betroffenen bleiben ruhig.

Woher rührt die Passivität der Arbeitslosen? Weder Armut noch soziale Unsicherheit hindern eine Person daran, die eigenen Interessen zu vertreten. Gegen die Hartz-Gesetze fanden 2004 Massendemonstrationen und die Montagsdemonstrationen statt, in denen Erwerbslose in größerer Zahl für ihre Belange eintraten. Doch offenbar gilt: Je länger der Hartz-Apparat die Menschen verwaltet, desto geringer wird ihr Selbstbewusstsein wegen der Mangelversorgung und Geringschätzung. Die Gruppe der Arbeitslosen ist heterogen, die Einzelnen sind isoliert, und als Erwerbsloser öffentlich aufzutreten, ist nicht so attraktiv wie beispielsweise als Lokführer. Die Botschaft, zu nichts gebraucht zu werden, scheint angekommen zu sein.
Das liegt nicht nur an Hartz IV. Bereits einfache Arbeiten erfordern in der hochspezialisierten Ökonomie Deutschlands besondere Qualifikationen – denjenigen, die hier nicht mithalten können, droht in der Konkurrenz um Stellen der Ausschluss. Man kann davon ausgehen, dass es mit der Abwertung und dem Ausschluss vieler Hartz-IV-Bezieher so weitergeht. Das dürfte gerade viele der 1,42 Millionen Personen betreffen, die seit 2005 dauerhaft ALG II beziehen.