Über die sozialen Unruhen in Algerien

Korrupt, aber geduldet

In Algerien kommt es häufig zu sozialen Protesten, doch einen Sturz des Präsidenten Abd al-Aziz Bouteflika fordern nur wenige Demonstranten.

In Algier ist es ruhig. Nur am Samstag sind die Straßen voll von Polizisten. Denn seit dem 12. Februar veranstaltet die CNCD (Nationale Koordination für den demokratischen Wandel), der Menschenrechtsorganisationen und linke Parteien angehören, wöchentlich einen Marsch, der am Platz des 1. Mai beginnt.
Die Gründung der CNCD wurde von der Algerischen Liga für Menschenrechte (LADDH) initiiert. Das Bündnis entstand im Januar während der Proteste gegen ein neues Steuergesetz, das einen Anstieg der Lebensmittelpreise zur Folge hatte, und setzt sich für ein demokratisches Regierungssystem ein. »Das Koordinationskomitee für den Marsch besteht aus Vereinen und Leuten, die einen Systemwechsel wollen, denn seit 1962, also seit 50 Jahren, wird ein Systemwechsel gefordert. Ben Ali in Tunesien ist gegangen. Mubarak ist gegangen. Warum nicht auch Bouteflika?« sagte Hassene Hosseini*, ein ehemaliger Arzt, der Jungle World. Er war vor Jahren Mitglied der Oppositionspartei RCD (Vereinigung für einen demokratischen Wandel), die der CNCD angehört.
Es waren bislang nur wenige hundert Menschen, die an den Samstagen demonstriert haben. Doch die Regierung von Abd al-Aziz Bouteflika reagierte angesichts der Revolutionen in Tunesien und Ägypten nervös, 30 000 Polizisten umkreisten die Demonstranten, die Hauptzufahrtsstraßen nach Algier waren gesperrt.

»Mörder« schreien die Demonstranten, als sie am 12. März von der Polizei abgedrängt werden. »Wir haben genug von diesem Regime« sowie »Freies und demokratisches Algerien!« sind die Parolen. An der Demonstration nehmen auch Islamisten teil. »Die CNCD ist ein seltsamer Zusammenschluss, bestehend aus Laizisten der RCD, den moderaten Islamisten der Ennahda, Mitgliedern verschiedener virtueller politischer Orga­nisationen, wie etwa der Partei für Laizismus und Demokratie PLD und der sozialistischen Arbeiterpartei PST«, schreibt Cherif Ouazani in der Wochenzeitung Jeune Afrique.
Viele der Parteien, die zu Protesten aufrufen, werden dem Establishment zugerechnet. Einige von ihnen sind im Parlament, ihnen wird vorgeworfen, sich mit dem Regime arrangiert zu haben. Die CNCD findet bisher wenig Zustimmung in der Bevölkerung. »Es gibt in Algerien keine richtige soziale Bewegung. Es gibt einige Oppositionsparteien, ihre Gründer und Mitstreiter kommen vor allem aus einem berberischen Gebiet in Algerien, der Kabylei. Sie sind vielen Algeriern suspekt, weil sie eine politische Liberalisierung westlicher Art anstreben«, erzählt Hassene. »Man wirft also der CNCD Verwestlichung vor. Die Algerier haben Angst, nicht mehr Muslime sein zu können. Sie verstehen nicht, was Trennung zwischen Staat und Religion bedeutet.«
In den wichtigsten algerischen Fernsehsendern und den beiden arabischsprachigen Tageszeitungen al-Nahar und al-Chourak, die Generälen gehören, wurde die CNCD als Organisation des sehr reichen RCD-Parteivorsitzenden Said Sadi dargestellt. Das zeigt Wirkung. »Ich möchte nicht an dem Marsch teilnehmen. Said Sadi lebt in der Schweiz. Wenn jemand, der Millarden Dinar hat, will, dass ich mit ihm marschiere, muss er erst seine Milliarden mit mir teilen«, sagt etwa ein Taxifahrer, der sich über die abgesperrten und wegen der Proteste verstopften Straßen ärgert.
Innerhalb der CNCD wird die Mitgliedschaft der Parteien kontrovers debattiert. Mustapha Bouchachi, der Vorsitzende der Menschenrechtsliga LADDH, erklärte, das Bündnis wolle vor allem außerparlamentarisch tätig sein. Ehrenpräsident der LADDH ist noch immer Ali Yahia, ehemals Minister und Anwalt des FIS (Islamische Rettungsfront). Diese islamistische Organisa­tion kämpfte in den neunziger Jahren gegen das Regime und massakrierte unzählige Zivilisten. Auch das Militär ist für viele Kriegsverbrechen verantwortlich.
»Meine Generation ist von der Gewalt der neunziger Jahre traumatisiert, wir wollen keine Gewalt mehr sehen, keine Morde, kein Blut«, sagt der 35jährige Gemüsehändler Mourad Khelil*. Deshalb wollen die meisten Algerier keinen Aufstand riskieren, auch wenn sie Bouteflikas Regierung für korrupt und inkompetent halten. Die Jugendlichen sind weniger von diesen Erfahrungen geprägt, doch nur wenige verfügen über einen Internetzugang, und der Anteil der Studierenden ist geringer als in Tunesien.

»Am vorigen Samstag habe ich nicht an der Demonstration teilgenommen. Weißt du, warum? Weil die Jugendlichen nicht teilnehmen. Ich habe genug für Algerien getan.« Das erzählt ein Rentner bei der Veranstaltung »Demokratie in der arabischen Welt« im Hotel Safia in Algier. Die Jugendlichen hätten Gründe genug zu protestieren. Nach offiziellen Angaben sind 21,5 Prozent von ihnen erwerbslos, andere arbeiten als Geldwechsler oder Schuhputzer. Anfang dieses Jahres erließ die Regierung ein Gesetz, das alle Kleinhändler zur Ausstellung von Rechnungen und zur Zahlung der Mehrwertsteuer verpflichtete. Die Lebensmittelpreise stiegen stark an. Es kam zu Protesten und zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. Die Regierung nahm das Gesetz zurück und senkte die Lebensmittelpreise durch Subventionen. Daraufhin entspannte sich die Lage. Überdies hat Bouteflika den seit 1992 geltenden Ausnahmezustand aufgehoben. Doch seitdem wurde keine einzige Demonstration genehmigt.
Protestiert wird häufig, Studierende demonstrierten vor dem Rathaus in Annaba gegen die Universitätsreform, in Algier und anderen Städten forderten Krankenhausangestellte, Lehrer und Mitarbeiter der Bahngesellschaft SNCF bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne. Die Regierung macht Zugeständnisse. so wurden die Löhne für einige Berufsgruppen im öffentlichen Dienst erhöht, zudem gibt es ein Jobprogramm für Jugendliche. An der sozialen Misere und der politischen Unfreiheit ändert das wenig, doch trotz der Unzufriedenheit muss das Regime derzeit wohl nicht mit einem Aufstand rechnen.

*Name von der Redaktion geändert