In Kreuzberg wird über den Umgang mit Touristen diskutiert

Kreuzberg schafft sich ab

Die Debatte um die »Touristifizierung« der Berliner Kieze.

Vielleicht lag es nur an der Überschrift, dass die Diskussion etwas anders lief als erwartet. Unter dem Titel: »Hilfe, die Touris kommen« hatten die Grünen in ein Kreuzberger Nachbarschaftszentrum eingeladen. Thema sollten die steigenden Besucherzahlen in Berlin und die damit einhergehenden Veränderungen im Kreuzberger Wrangelkiez sein. Mehr als 20 Millionen Übernachtungen verzeichnete das Amt für Statistik im Jahr 2010, eine Steigerung um zehn Prozent gegenüber dem Vorjahr. In Kreuzberg hat das spürbare Folgen.
Fast 200 Menschen folgten der Einladung der Grünen – doch statt struktureller Probleme wie der Genehmigung immer neuer Hostels oder der Nutzung von Wohnungen als Gästeappartements wird seither über ein Feindbild diskutiert: Touristen, trinkende Spanier, grölende Jugendliche, Personen ohne Deutschkenntnisse. Mit unverhohlener Schadenfreude konstatiert der Spiegel: »Ausgerechnet in dem Bezirk, in dem Toleranz um jeden Preis als erste Bürgertugend galt, blasen die Anwohner jetzt zum Aufstand.« Kreuzberg ringe um seinen Ruf, heißt es da, von »No-Go-Areas« für Touristen ist plötzlich die Rede, von befreiten Zonen für Ureinwohner. Wer schon immer wusste, dass nicht alles mit rechten Dingen zugeht in Kreuzberg, fühlt sich jetzt bestätigt.
Tatsächlich hat die Diskussion die unschönen Aspekte der Gentrifizierungsdebatte wieder aufleben lassen. Ein Teil davon war immer der Versuch der Abgrenzung, das Bedürfnis zu definieren, wer dazugehört und wer nicht. »Wir«, das sind die, die keine hohen Mieten zahlen können, die ein irgendwie alternatives Leben leben wollen. »Wir« leben schon länger hier als »die«, die höhere Mieten akzeptabel finden, weil sie an Münchner oder Madrider Preise gewöhnt sind.
Viel mehr noch als erhöhte Mieten, die jetzt mit dem Zustrom von internationalen Touristen erklärt werden, scheint einige Anwohner die bloße Existenz dieser Touristen zu stören. In den unzähligen auf die Veranstaltung folgenden Fernsehbeiträgen und Artikeln ging es weniger um Verdrängungsprozesse. Anwohner beschwerten sich stattdessen, »die« gehörten einfach nicht dazu, passten nicht in den Kiez, man fühle sich wie im Zoo, und überhaupt höre man gar kein Deutsch beziehungsweise Türkisch mehr. Dass das türkische Kreuzberg plötzlich positiv vereinnahmt und einem neuen internationalen Publikum entgegengestellt wird, ist neu. Die Strategie erinnert fatal an die Rede von der »christlich-jüdischen« Prägung Deutschlands, mit der der Islam ausgeschlossen werden soll. In der Tourismusdebatte wird das Türkische dagegen genutzt, um andere Gruppen auszugrenzen.
Interessanterweise sind Stimmen von tür­kischen Anwohnern in der Debatte überhaupt nicht zu hören. Die alteingesessenen Migranten im Kiez, der türkischstämmige Anwohner, die arabische Anwohnerin kommen nicht zu Wort. Auf einmal sollen sie Teil sein eines multikulturellen Kiezes, nicht mehr das ungewollte Andere, sondern Ausstattung der Oase, die gegen die neuen Fremden verteidigt werden muss. Kieze mit Dönerläden und arabischen Spätkaufläden bieten eine exotische Befriedigung, die Tapasbars und italienische Restaurants nicht liefern können. Die entsprechen diesem Bedürfnis vielleicht nur deshalb nicht, weil sie teurer sind – oder weil sie mit der Toscana-Fraktion assoziiert werden und deshalb den falschen Lifestyle versprechen. Geschmack ist legitim, und es gibt gute Gründe dafür, den Dönerladen sympathischer zu finden als teure Restaurants. Die Ehrlichkeit, dass es sich um persönlichen Geschmack handelt, sollte aber schon drin sein.
Auch wenn die Theoretiker der Gentrifizierungsdebatte – wie der Stadtsoziologe Andrej Holm und die Stadtplaner von Urbanophil – oder die Aktivisten von »Mediaspree versenken« darauf bestehen, es gehe um den Kampf gegen Kommerzialisierung und um die Erhaltung von Vielfalt, sind es trotzdem zumeist Partikularinteressen, für die gekämpft wird. Wünsche wie der nach bezahlbarem Wohnraum, nach öffentlich nutzbaren Flächen oder nach Orten, an denen man selbst sich wohl fühlt, sind verständlich – sie sind nur nicht per se politisch. Nimbys heißen diese Menschen, die erst dann zu Aktivisten werden, wenn sich in ihrem eigenen Hinterhof etwas verändern soll: »Not in my Backyard!« Nichts gegen Atomkraftwerke, aber bitte woanders. Um den eigenen Hinterhof zu verteidigen, wird gern mit einfachen Feindbildern hantiert. Der Kapitalist mit der Zigarre, der Heuschreckenschwarm, der Schwabe werden derzeit ergänzt durch das Bild des partyfixierten Easyjetsetters. Spanisch- oder englischsprachig, überfällt und zerstört er in Horden Stammkneipen und Szeneläden. Die neue Trennlinie verläuft zwischen dem imaginierten »Wir« und den als fremd definierten Touristen.
Als hätte es nie eine postkoloniale Theorie gegeben, tauchen plötzlich wieder klare Trennlinien zwischen »uns« und »ihnen« auf, werden Zwischenräume völlig verwischt. Kulturen erscheinen wieder als voneinander abgrenzbare Einheiten, Opfer und Täter, Eigenes und Fremdes bestehen als eindeutige Gegensätze. Ein Verteilungskampf zwischen alteingesessenen, sich mühsam durch ihr prekäres Leben kämpfenden und in feste soziale Strukturen eingebundenen Kreuzbergern und den globalisierten Easyjetsettern wird heraufbeschworen. Kreuzberg als gal­lisches Dorf, das gegen die Kolonialisierung und »Überfremdung« durch Touristen kämpft. In einer Gesellschaft, die sich nur mit Mühe daran gewöhnt, Migrationsgesellschaft zu sein, sind Abwehrreflexe nicht nur gegen »arme Flüchtlinge« zu beobachten, sondern ebenso gegen vermeintlich wohlhabende und privilegierte Reisende. Nur hier kann wahrscheinlich ein Begriff wie der des »Dauertouristen« (Süddeutsche Zeitung) erschaffen werden. Die Bezeichnung »Gastarbeiter« folgte schließlich der gleichen Logik: Dauertourist wie Gastarbeiter leben hier, gehören aber trotzdem niemals dazu.
Spätestens da geht es nicht mehr um Mieten und Bierpreise, sondern um Selbstdefinition über die Abgrenzung vom Anderen. Der Bezug auf den gemeinsamen Wohnort Kreuzberg führt für die Anwohner zu einem neuen Wir-Gefühl, das sich auch aus der gemeinsamen Front gegen »die Touristen« speist. Als Gatekeeper schützen die Kreuzberger ihr Dorf: »Wir waren die ersten hier!« Das konstruierte Selbstbild des prekären und unangepasst lebenden Kreuzbergers hat mit dieser Realität wenig zu tun. Denn die kleinbürgerlichen Reflexe, mit denen das Territorium verteidigt wird, der Bezug auf die eigene Gruppe und den eigenen Besitz, kommen in diesem Selbstbild nicht vor. Seine eigene lokale Begrenztheit nimmt der Kreuzberger nicht wahr. Deshalb kann er auch nach einer Verschärfung der Gesetze rufen, ohne sein Selbstbild in Frage zu stellen. Der Ruf nach der Polizei, um das alternative Biotop vor den lärmenden Touristen zu retten, ist dann kein Widerspruch.
Statt Schuldzuweisungen an bestimmte Personengruppen (und lustigen Tipps wie in der Interim: »Geldbörsen und Handys im Vorbeifahren von den Tischen der Fressläden klauen, Autos anzünden, Hotels einwerfen, Müll verursachen, Touribusse bewerfen«) wäre eine Kritik der Zusammenhänge zielführender. Moralinsaure Verurteilungen der Touristen, die einfach nicht wissen, welche Kneipen cool sind (und dort auch gar nicht erwünscht sind) und keine Ahnung vom Mietspiegel haben, führen nicht weiter.
Über die tatsächlichen Auswirkungen im Kiez wie die veränderte Infrastruktur und steigende Mieten kann kaum noch ernsthaft diskutiert werden, so sehr werden sie überlagert von dem Überfremdungsdiskurs, von der vermeint­lichen Bedrohung eines uneingestandenen Heimatgefühls. Kreuzberg schafft sich nicht ab mit dieser Debatte. Nach all den Rufen »Yuppies raus« und »Schwaben raus« war nur eine weitere Verkürzung fällig. Nichts Neues also. Wer bestehende Alternativstrukturen erhalten will, muss sich etwas Besseres einfallen lassen als Schuldzuweisungen und Opferdiskurse. Vielleicht ist die Selbstinszenierung der Kreuzberger als ausgelieferte Zootiere aber auch ganz heilsam. Wer einmal hinter den Stäben saß, denkt anders über Zoos. Die Konsequenz hat das Online-Satire-Magazin Der Koyote am besten in Worte gefasst: »Nie – nie – nie wieder Urlaub!«