Mit Kant durch die Katastrophe

Wenn deutsche Journalisten geistreich erscheinen wollen, schreiben sie etwas über Immanuel Kant. So wie Klaus Hartung im Tagesspiegel: »Für Kant war der Untergang Lissabons auch eine Herausforderung, das Verhältnis der Menschen zur Natur grundsätzlich zu klären. Die Katastrophe fordere von den Menschen Demut«. Kant hin oder her, eine Katastrophe fordert gar nichts. Sie kommt einfach so daher. Es gab 1755 in Lissabon kein Atomkraftwerk, daher debattierte man in der Epoche der Aufklärung über Gott und die fragwürdige Behauptung der Theologen, er sei gütig. Gott hat keine Meldeadresse, hartnäckig halten sich sogar Zweifel an seiner Existenz, jedenfalls kann man ebenso wenig gegen ihn protestieren wie gegen die Natur. Anders verhält es sich mit den Betreibern von Atomkraftwerken. Da dreister Atomlobbyismus derzeit etwa so glaubwürdig ist wie eine Rede Muammar al-Gaddafis, behilft man sich mit der Mahnung, innezuhalten und – nun, was man eigentlich tun soll, wird nicht so ganz klar.
»Wiewohl die ersten Bilder der Flutwelle eine noch nie da gewesene Katastrophe erwarten ließen, kreiste das Interesse der Politik und der Medien doch auffällig einseitig um die Gau-Berichterstattung«, meint Hartung. »Es ist wohl doch der erste Akt der Teilhabe und Menschenliebe, dass man nicht wegsieht, vielmehr alles zu begreifen sucht, was geschieht?« Abgesehen davon, dass man in Deutschland offenbar meint, seine Empathie bewiesen zu haben, wenn man anderen einen Mangel an Empathie vorwirft, ist fraglich, ob Voyeurismus als Zeichen von Menschliebe gelten kann. Innehalten will auch Gerd Held, der in der Welt mahnt: »Etwas Zeit zum Denken sollten wir doch aufbringen, bevor wir uns alle den Kopf zum Um-Denken richten lassen.« Seit dem Atomunfall in Three Mile Island (1979) und der Katastrophe von Tschernobyl (1986) ist zwar schon etwas Zeit vergangen, aber manch einer denkt eben etwas langsamer. Schreiben kann man ja schon, bevor man damit fertig ist: »So ließen sich auch die Übel der Welt auf Schuldige zurückführen. Dadurch blieben sie im Grunde klein. Nun aber hat ein Schlag die Menschen getroffen, der in einem tieferen Sinn ein Unglück ist. Auf einmal erscheinen die Menschen so klein. Die Welt soll ein soziales Konstrukt sein? Wie kurzsichtig das nun klingt.« Schlamperei bei der Wartung der Notstromaggregate in Fukushima? Mit solchen Banalitäten gibt man sich nicht ab. Held, der noch im Januar festgestellt hatte, dass es sich bei den Klagen über den Streusalzmangel in Deutschland »nicht um eine Hysterie verwöhnter Bürger« handelt, meint nun: »Wir brauchen ein neues Verhältnis zum Unglück, eine psychologische Fähigkeit, es anzunehmen – auch das große Unglück, das viele unserer Anstrengungen zunichtemacht. Die stille Würde, mit der die Japaner ausharren, berührt unser Herz.«