Der Streit zwischen Italien und der EU über die Flüchtlinge

Bloß nicht bei uns!

Sind die Flüchtlinge und Migranten aus Nordafrika, die in den vergangenen Wochen Lampedusa erreichten, nur »ein ita­lienisches Problem«? Die deutsche und die französische Regierung scheinen sich darüber einig zu sein. Aber Italien will die Unerwünschten so schnell wie möglich loswerden und plant, befristete Visa auszustellen, damit die Flüchtlinge in andere EU-Staaten einreisen können.

Der Versuch der italienischen Regierung, sich Einfluss auf die Grenzpolitik Tunesiens zu erkaufen, ist fehlgeschlagen. Zwar akzeptierte die Übergangsregierung die Zahlung von 300 Millionen Euro zur Unterstützung von Unternehmensgründungen und für die Ausstattung der Küstenwache mit Computern, Schnellbooten und Radaranlagen, doch auch nach zwei Tagen zäher Verhandlungen lehnte Ministerpräsident Béji Caïd Essebsi gemeinsame Küstenpatrouillen und die militärische Überwachung der Küstenhäfen ab. Stattdessen zwang er seinen italienischen Amtskollegen Silvio Berlusconi zu Zugeständnissen gegenüber den 22 000 bisher nach Italien geflüchteten tunesischen Migranten. So erließ Italiens Regierung vergangene Woche ein Dekret, das »nordafrikanischen Staatsangehörigen, die nach dem 1. Januar 2011 und vor Ablauf des 5. April 2011« in Italien angekommen sind, aus humanitären Gründen eine auf sechs Monate befristete Aufenthaltsgenehmigung gewährt. Alle außerhalb dieses Zeitraums Eingereisten sollten künftig umgehend zurückgeschickt werden können. Tunesien soll außerdem die Abschiebung von 800 Landsleuten, die sich schon länger in italienischen Flüchtlingslagern befinden, akzeptiert haben. Aus Protest gegen die geplanten »Rückführungsflüge« zündeten junge Tunesier die Matratzen der Notunterkunft auf Lampedusa an.
In der Nacht nach Bekanntgabe des Abkommens geriet ein Boot mit 300 subsaharischen Flüchtlingen aus Libyen wenige Meilen vor Lampedusa in Seenot. 250 Menschen ertranken vor den Augen der italienischen Küstenwache. Nur 53 Männer und Frauen konnten gerettet werden. Unzählige Boote sind seit dem Ausbruch der Unruhen in Nordafrika gekentert, Hilfsorganisationen schätzen, dass in diesem Frühjahr schon 800 Menschen im Kanal von Sizilien ertrunken sind. Angesichts des jüngsten »Flüchtlingsunglücks« forderte der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen die Europäische Union auf, endlich wirksame Maßnahmen zur Rettung auf offener See zu erfreifen.

Die EU ist jedoch weiterhin weniger um die Rettung als um die effiziente Abwehr von Flüchtlingen bemüht. Die eigenmächtige Entscheidung Italiens, befristete Aufenthaltsgenehmigungen zu gewähren, in der offen ausgesprochenen Hoffnung, die Migranten würden ihre Visa nutzen, um weiterzureisen, stößt bei den europäischen Nachbarländern, insbesondere in Deutschland und Frankreich, auf Kritik. Uneinigkeit herrscht vor allem darüber, ob diese Aufenthaltsgenehmigungen den Migranten innerhalb des gesamten Schengen-Raumes Freizügigkeit garantieren. Die EU-Innenkommissarin Cecilia Malström wies in einem Brief an den italienischen Innenminister Roberto Maroni darauf hin, dass die in Rom ausgegebenen Visa »nicht automatisch« für ganz Europa gelten würden. Anfang der Woche sah die EU-Innenministerkonferenz in Luxemburg keinen Anlass zur Anwendung der EU-Richtlinie 55/2001, die Flüchtlingen im gesamten Schengen-Raum einen »befristeten Schutz« gewährt.
Bereits vergangenen Freitag hatte der französische Innenminister Claude Guéant auf einem Krisengipfelin Mailand erklärt, sein Land werde die Einreise der in Italien legalisierten Flüchtlinge an Bedingungen knüpfen. Demnach müssen die Migranten nachweisen können, dass sie für die Dauer ihres befristeten Aufenthalts über ausreichende finanzielle Mittel verfügen. Bereits seit Wochen lässt die französische Regierung den italienisch-französischen Grenzübergang verstärkt kontrollieren. Hunderte von Migranten aus dem Maghreb sitzen in der italienischen Grenzstadt Ventimiglia fest.
Einig scheinen sich die beiden Innenminister dagegen in ihrem Versuch zu sein, vermeintliche Wirtschaftsflüchtlinge aus Tunesien von libyschen und subsaharischen Kriegsflüchtlingen zu unterscheiden. Letzteren soll weiterhin Asyl gewährt werden, allerdings müsse dieser »Flüchtlingsstrom« auf alle europäischen Länder verteilt werden. Außerdem müsse sich die EU stärker um die Abwehr der »illegalen Einwanderung« bemühen. Maroni und Guéant kündigten an, ihre Länder würden künftig gemeinsam vor der tunesischen Küste patrouillieren, um die Abfahrt von Flüchtlingsbooten zu verhindern. Auf welcher rechtlichen Grundlage dieses Vorhaben stattfinden soll, erklärten sie nicht. Maroni deutete an, Italien könnte seine Beteiligung an der europä­ischen Agentur zur Flüchtlingsabwehr (Frontex) aufkündigen, sollte diese nicht in der Lage sein, ihre Aufgabe zu erfüllen.

Der von Italiens Regierung erwünschte »psychologische Effekt«, die sofortige Abschiebung von Neuankömmlingen könne die Migration aus Tunesien stoppen, ist bisher ausgeblieben: Weiterhin landen täglich Hunderte von Flüchtlingen auf der Mittelmeerinsel. Immerhin wurden die meisten von ihnen mittlerweile aus Lampedusa abtransportiert. Da die von rechten Parteien regierten Regionen Norditaliens sich weigerten, nord­afrikanische Flüchtlinge aufzunehmen, hat man diese zwischenzeitlich in das ursprünglich nur für Asylbewerber bestimmte Aufnahmelager nach Mineo, bei Catania, und in eine provisorische Zeltstadt nach Manduria, bei Taranto, gebracht. Die Regionalpräsidenten der Toskana und Apuliens protestierten gegen die Einrichtung von militarisierten Sammellagern und forderten eine dezentrale Unterbringung der Flüchtlinge in zivilen Einrichtungen. Mit der Ausgabe der befristeten Aufenthaltsgenehmigungen für tunesische Migranten ist dieser innenpolitische Streit vorerst beigelegt, denn immer mehr nordafrikanische Immigranten verlassen nun die überfüllten und völlig unzureichend ausgestatteten Notunterkünfte, in der Hoffnung, sich zu Verwandten und Freunden durchschlagen zu können.
Die linksliberale Opposition kritisierte zwar die katastrophalen Zustände in den Notunterkünften, nicht aber den Versuch der Regierung, die Aufnahme von Migranten generell zu beschränken. Widerstand gegen die Abschottungspolitik organisiert sich nur parteiunabhängig, im Rahmen kleiner, lokaler Gruppierungen, die das Netzwerk »Welcome« gegründet haben. »Welcome«-Gruppen waren in den vergangenen Wochen auf Lampedusa präsent, sie unterstützen eine Massenflucht aus dem Sammellager in Manduria und protestierten gegen die französische Grenzpoli­tik in Ventimiglia. Seit Freitag vergangener Woche begleitet »Welcome« die von verschiedenen studentischen und antirassistischen Basisgruppen organisierte Karawane »Vereint für die Freiheit« nach Tunesien. In Tunis wurde die Karawane von örtlichen Studenten- und Gewerkschaftsgruppen der Revolutionsbewegung empfangen. Gemeinsam mit Vertretern dieser Gruppen brachte die Karawane medizinisches Gerät und Arzneimittel in das an der libyschen Grenze gelegene Flüchtlingslager Ras Ajdir. »Welcome« wertet das ita­lienische Regierungsdekret als erstes Eingeständnis einer fehlgeschlagenen Immigrationspolitik. Der Versuch der Lega Nord, auf Kosten der Flüchtlinge Wahlkampfpropaganda zu betreiben, sei nicht gelungen, das Konzept der Kriminalisierung der Einwanderung gescheitert, nun gelte es, weitere Forderungen zu stellen.
»Welcome« verlangt die Abschaffung des Straftatbestands der illegalen Einwanderung, die Anerkennung eines befristeten Aufenthaltsstatus für alle ankommenden Immigranten und die Einrichtung eines »humanitären Korridors«, der allen Flüchtlingen aus Afrika und dem Nahen Osten eine sichere Ankunft in Europa garantiert.