Die Debatte zur Präimplantationsdiagnostik

Die Grenzen der Empathie

Der Bundestag diskutiert über die gesetzliche Regelung der Präimplantationsdiagnostik, im Sommer wird eine Entscheidung erwartet. Bisher stimmen 215 Abgeordnete für einen Entwurf, demzufolge Embryonen, die eine schwerwiegende Erkrankung aufweisen, aussortiert werden können. 192 Parlamentsmitglieder sind für ein striktes Verbot.

Viele Kommentatoren sprachen nach der Debatte von einer »Sternstunde der Demokratie«. Diese Formulierung wird gerne verwendet, wenn im Bundestag der Fraktionszwang aufgehoben wird. Dann kann es geschehen, dass Abgeordnete der Linkspartei frenetischen Applaus von CDU und CSU erhalten und FDP-Politiker von Vertretern der SPD und der Grünen mit liebevollen Blicken bedacht werden. Am Donnerstag voriger Woche fand im Bundestag die erste Lesung zur gesetzlichen Regelung der Präimplantationsdiagnostik (PID) statt. Ausgelöst wurde die Debatte über eine Zulassung oder ein Verbot der PID durch ein Urteil, das der Bundesgerichthof im Juli 2010 gefällt hatte (Jungle World 33/10). Die Richter entschieden, dass es nicht strafbar sei, im Reagenzglas erzeugte Embryonen auf Gendefekte zu untersuchen und vor der Verpflanzung in die Gebärmutter auszuwählen. Richtig erlaubt ist es aber auch nicht.

Dem Parlament liegen drei Gesetzesentwürfe vor, die von einem generellen Verbot über ein Verbot mit Ausnahmen bis zu einer begrenzten Zulassung reichen. Gegner und Befürworter der PID gibt es in allen Fraktionen, dabei kommt es auch zu überraschenden Allianzen. Diejenigen, die sich für eine begrenzte Zulassung von Gentests aussprechen, nehmen für sich in Anspruch, Paaren mit einem Kinderwunsch helfen zu wollen, die eine genetische Disposition für eine schwerwiegende Erbkrankheit haben. »Es geht um Menschen in großer Not«, sagte Ulrike Flach, die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der FDP. Bei der begrenzten Zulassung sollen sie die Möglichkeit haben, einen Antrag auf eine künstliche Befruchtung mit einer PID zu stellen, dem eine Ethikkommission zustimmen muss. »Viele Betroffene haben eine unvorstellbare Leidensgeschichte hinter sich«, sagte Carola Reimann (SPD), man habe kein Recht, ihnen medizinische Hilfe zu verweigern. Petra Sitte, die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Linkspartei, verwies auf Eltern, die bereits schwerkranke Kinder haben und sich weitere Kinder »ohne Leid« wünschen: »Warum sollten wir das nicht respektieren?«
Nach Ansicht von Peter Hintze (CDU), parlamentarischer Staatssekretär des Bundeswirtschaftsministeriums, sollten Paare mit einer erheblichen erblichen Vorbelastung das Recht dazu haben, die PID anzuwenden. Das geböten »das Grundgesetz und die Nächstenliebe«. Abgeordnete wie Priska Hinz von den Grünen sind hingegen für ein Verbot der PID, sie würden allerdings Ausnahmen bei Eltern zulassen, die eine genetische Diagnose haben, bei der mit »Fehl- oder Totgeburten« zu rechnen sei. Diese Ausnahmen sollen strengen Auflagen unterliegen, es dürfe dabei nicht um eine »schwere Behinderung« gehen, denn dieser Begriff sei »allzu dehnbar«. Unterstützt wird dieser Antrag von Patrick Meinhardt (FDP), René Röspel (SPD) und Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU).

»Der Staat definiert nicht den Menschen, sondern der Mensch definiert den Staat.« Es gab Applaus, als Pascal Kober (FDP) diese Worte sagte – auch aus der Linksfraktion. Unter denjenigen, die sich gegen die PID aussprechen, finden sich Politiker, die man sonst wohl kaum miteinander in Verbindung bringen könnte. Strikt gegen die PID sind Abtreibungsgegner wie Johannes Singhammer (CSU), für den das Leben »mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle« beginnt, auch in der Petrischale. Die frühere Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) begründet ihre Ablehnung damit, dass »bei der PID die Selektion am Anfang steht«. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), die lange eine Befürworterin der PID war, zählt mittlerweile zu den strikten Gegnern. Sie begründet ihren Sinneswandel damit, dass sie die Entscheidung, die Eltern und Ärzte dabei treffen sollen, für nicht zumutbar hält. Birgitt Bender von den Grünen fürchtet, dass sich mit einer Zulassung der PID der Druck auf Eltern von behinderten Kindern erhöhe, die sich gegen eine PID entschieden hatten. »Das hätte doch nicht sein müssen«, könnte der Vorwurf lauten, mit dem sie konfrontiert würden.
Die Debatte wurde ohne die im Parlament sonst üblichen hämischen Zwischenrufe geführt. Richtig still wurde es allerdings, als Ilja Seifert, behindertenpolitischer Sprecher der Linkspartei, im Rollstuhl zum Rednerpult geschoben wurde. Kein Papierrascheln und Räuspern war zu hören, als er seine Argumente gegen eine Zulassung der PID vortrug und schilderte, wie die derzeitige Diskussion von Behinderten wahrgenommen wird. »Ob wir es wollen oder nicht, diese Debatte stellt die Frage nach dem Wert oder dem Unwert menschlichen Lebens«, sagte Seifert. Seine Entscheidung für die Verwendung dieser Begriffe war nicht nur ein deutlicher Verweis auf die nationalsozialistische Vergangenheit Deutschlands, sondern er gab dem Parlament damit auch zu verstehen, dass den Menschen nicht Angst gemacht werden dürfe, »per Gesetz abgewertet zu werden«. Seiner Ansicht nach gibt es kein Recht auf ein gesundes Kind. Damit brachte er die Frage, um die es bei der Diskussion um die Zulassung der PID eigentlich geht, auf den Punkt.

Mit dieser Deutlichkeit hob sich Seifert von denjenigen ab, die für die PID plädieren und dabei stets das Argument vorbringen, es gehe ihnen darum, »vorhersehbares Leid« zu verringern. Damit wird die Zulassung der PID zu einem Akt der »Nächstenliebe«, wie ihn sich Peter Hintze vorstellt. Wenn es um die derzeitige Lebenssituation von behinderten Menschen geht, zeigen sich viele Abgeordnete weitaus weniger emphatisch. Vor nicht einmal zwei Monaten handelten sie den sogenannten Hartz-IV-Kompromiss aus, bei dem die Leistungen für erwachsene Behinderte, die bei ihren Eltern oder in einer Wohngemeinschaft leben, um 20 Prozent gekürzt wurden. In Deutschland lebt die Hälfte aller Behinderten im Alter zwischen 25 und 45 Jahren bei den Eltern. Im Mai vorigen Jahres urteilte das Bundessozialgericht, dass ein schwerbehindertes Kind kein Härtefall sei, für den zusätzliche Leistungen beantragt werden können.
Abgesehen von der Kritik, die von Vertretern der Behindertenverbände und -initiativen geübt wurde, waren nach diesem Urteil keine empörten Reaktionen in der Öffentlichkeit zu vernehmen. Angesichts dieses Mangels an Empathie ist es nicht völlig abstrus, zu vermuten, dass es bei der Debatte um die Zulassung der PID nicht nur um die Vermeidung des Leids von Menschen mit Behinderungen geht, sondern auch um Einsparmöglichkeiten in der Gesundheitspolitik. Diese Befürchtungen werden von den Lobbyisten der PID als Zeichen eines hysterischen Alarmismus abgewiesen. Für ebenso ungerechtfertigt halten viele Abgeordnete, die für die PID stimmen wollen, die Warnung, dass damit die Zukunft für das Entstehen sogenannter Designerbabies eröffnet werde. Doch in Großbritannien wird seit einem Jahr bei Embryonen aus dem Reagenzglas getestet, wie hoch deren genetische Disposition für eine Brustkrebserkrankung ist. In zahlreichen Staaten der USA wird die PID bereits als Dienstleitung angeboten, bei der Embryonen nach Geschlecht ausgewählt werden. Der euphemistische Begriff für diesen durchaus kostspieligen Service ist »Family Balance«.