Abdeljelil Bedoui im Gespräch über die Flüchtlingspolitik und den Rassismus in den EU-Staaten

»Wir gewähren selbst 200000 Menschen Asyl«

Kritik an der Flüchtlingspolitik der EU-Staaten kommt auch aus Tunesien: Vor kurzem veröffentlichten Oppositionsgruppen ein Communiqué, das den Rassismus der EU-Staaten kritisiert. Zu den Verfassern gehört auch das »Forum für wirtschaftliche und soziale Rechte«. Der Präsident des Forums, Abdeljelil Bedoui, war nach dem Sturz Ben Alis als beigeordneter Minister in die Übergangsregierung berufen worden, trat aber bald zurück, um gegen den Verbleib von Vertretern des alten Regime in der Regierung zu protestieren. Heute bemüht sich Bedoui um den Aufbau der ­Tunesischen Arbeitspartei.

Die EU zerstreitet sich derzeit über der Frage, wie mit den tunesischen Migranten umgegangen werden soll, die an der italienischen Küste landen. Alle Staaten haben dabei ein Interesse gemein: Sie wollen die Migranten bloß nicht in ihrem Land haben. Können Sie das verstehen?

Nein. Wir sind in einer außergewöhnlichen Lage, und wir wünschen uns, dass unsere Partner unsere schwierigen Bedingungen wahrnehmen. Nach der Revolution funktioniert vieles in diesem Staat noch nicht, wir sind erst dabei, demokratische Institutionen aufzubauen. Die Lebensbedingungen in Tunesien sind sehr schwierig, viele Menschen haben keine Arbeit oder haben ihre Arbeit verloren, ihre nahe Zukunft sieht nicht vielversprechend aus. Also beschließen viele, ihr Land zu verlassen und anderswo Arbeit zu suchen – pro­visorisch. Ihre Absicht ist es, aus den Schwierigkeiten, die sie jetzt in ihrem Leben haben, einen Ausweg zu finden. Wir haben nicht provoziert, dass diese Leute das Land verlassen. Viele von ihnen sind sehr jung, und Tunesien braucht diese Menschen und ihren Esprit. Wir wollen, dass die tunesischen Bürger hier bleiben, aber wir wissen, dass sich manche Menschen im Moment gezwungen sehen, sich anderswo nach besseren Lebensbedingungen umzusehen.

Nun sieht es nicht so aus, als wollten die europäischen Partner, von denen Sie sprachen, das einsehen – sie erwarten vielmehr, dass Tunesien die Menschen davon abhält, nach Europa zu gelangen.

Unser »Forum für wirtschaftliche und soziale Rechte« kämpft für die Freizügigkeit. Unser Land hat internationale Verträge über die freie Zirkulation von Waren und Dienstleistungen und Unternehmen abgeschlossen, wir haben mit der EU ein Assoziationsabkommen geschlossen, das den freien Handel beinhaltet. Wir verstehen nicht, warum die freie Zirkulation der Menschen davon ausgeschlossen wird. Wir fordern prinzipiell, dass auch den Menschen Freizügigkeit zugestanden wird. Zunächst aber fordern wir erst einmal, dass unsere Partner uns eine prosperierende Entwicklung wünschen und uns aufgrund unserer momentanen Schwierigkeiten mit Solidarität begegnen.

Haben Sie wirklich die Hoffnung, dass sich die EU gegenüber Tunesien solidarisch zeigt? Derzeit zeigen sich die EU-Staaten noch nicht einmal untereinander solidarisch, wenn es um die Aufnahme von Flüchtlingen geht.

Offenbar. Wir dachten zwischendurch, dass die Italiener auf unsere Situation mit Verständnis rea­gieren würden, aber das Verhalten der italienischen und auch der französischen Regierung in den vergangenen Tagen beweist das Gegenteil. Statt mit einer solidarischen Einstellung begegnen sie der Situation mit Rassismus und Aggressivität. Die tunesische Öffentlichkeit betrachtet das nicht als Verhalten eines Partners, sondern als ein feindseliges Verhalten, das unserer Revolution schadet. Deshalb appellieren wir an unsere Partner in der europäischen Zivilgesellschaft, dass sie mithelfen, diese Depression zu beenden und sich jenen entgegenstellen, die unsere junge Demokratie und unsere Phase des Übergangs sabotieren. Man muss sehen, dass unser Land trotz all seiner Schwierigkeiten selbst ein Land geworden ist, das Flüchtlingen Asyl gewährt, die vor dem Krieg in Libyen fliehen. Bis jetzt haben wir ungefähr 200 000 Flüchtlinge aus Libyen aufgenommen, und der Flüchtlingsstrom geht weiter, jetzt gerade auch wegen der Bombardierung von Tripolis.

Was passiert mit den Flüchtlingen, die aus Libyen nach Tunesien kommen?

Glücklicherweise reagiert unsere Bevölkerung darauf nicht rassistisch, im Gegenteil, es gibt hier einen Elan der Solidarität, die Menschen organisieren Hilfe für die Flüchtlinge, sie besorgen Zelte, Decken, Matratzen, Medikamente, Ernährung. Sie helfen diesen Menschen, die von Elend und Krieg bedroht sind. Wir verlangen, dass sich andere ebenso verhalten.

In der EU befürchtet man, dass die Flüchtlinge aus Libyen, aber auch aus Somalia, Eritrea und anderen subsaharischen Ländern nach Europa weiterreisen werden. Wird von den tunesischen Autoritäten verlangt, dass sie die Flüchtlinge von der Weiterreise nach Europa abhalten?

Es gibt Kontrollen an den tunesischen Grenzen, auch wenn das für die Regierung nicht die allerhöchste Priorität hat. Wir tun, was wir können, mehr kann man von uns in der aktuellen Situation nicht verlangen. Außerdem kommen diese Menschen, die etwa aus Somalia, aus Eritrea, dem Sudan oder Darfur stammen, aus Ländern, die sich im Kriegszustand befinden. Man kann doch diese Leute nicht zurückschicken, und man kann sie auch nicht daran hindern, sich frei zu bewegen! Sie haben das Recht dazu, und auch das Recht, menschlich behandelt zu werden.

In der Vergangenheit hat die EU mit Gaddafi oder etwa auch mit dem Regime Ben Alis Verträge ausgehandelt, die vorsahen, dass diese Diktaturen die afrikanischen Flüchtlinge von Europa fernhalten. Die EU dürfte nun darauf hoffen, Tunesien weiterhin dazu bewegen zu können, die Flüchtlinge von der Reise übers Mittelmeer abzuhalten.

Die Verträge, die es mit den Diktatoren gab, interessieren uns nicht mehr, das waren auch Verträge, die uns davon abhielten, frei zu leben. Solche Verträge sind hinfällig. Die Staaten der Europäischen Union müssen verstehen, dass wir jetzt eine Demokratie sind, und uns neue Perspektiven eröffnen für unsere Entwicklung, dann bleiben unsere Bürger auch hier.

Besteht nicht die Gefahr, dass die EU Tunesien und die anderen Länder der Region unter Druck setzt und sagt, es gebe keine Hilfen, wenn sie nicht ihre Bürger davon abhalten, nach Europa auszuwandern?

Wir brauchen keine Hilfe dabei, unsere Leute zurückzuhalten, wir brauchen Hilfe zur Entwicklung. Wenn es Hilfen für unsere wirtschaftliche Entwicklung gibt, die dazu beitragen, dass die Menschen hier bleiben, ist das willkommen. Hilfen, die dazu da sind, die Grenzen zu überwachen, unsere eigene Bewegungsfreiheit und die der Flüchtlinge einzuschränken, solche Hilfen brauchen wir nicht.