Über den Bedarf der EU an billigen Arbeitskräften

Bolkesteins Traum

Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ergänzt sich bestens mit dem EU-Grenzregime im Mittelmeerraum.

Frits Bolkestein hat ein unbeschwertes Verhältnis zu Fragen der internationalen Mobilität. Das wissen wir spätestens seit seinem lapidaren Ratschlag an die niederländischen Juden, sie sollten angesichts des Antisemitismus in den Niederlanden einfach nach Israel auswandern. Bereits 2004 eckte der damalige EU-Kommissar mit seinen Vorstellungen über Herkunft und Migra­tion an. Die von ihm entworfene Richtlinie für den EU-Binnenmarkt sah vor, dass ein Dienstleistungsunternehmer nur noch den Gesetzen und Tarifen des Landes unterliegen sollte, in dem sich der Unternehmenssitz befindet. Weil diese Einladung zum Lohndumping auf Proteste der Gewerkschaften stieß, wurde die Richtlinie 2006 ohne dieses »Herkunftslandsprinzip« eingeführt.
Doch in Wirklichkeit ist die Vision Bolkesteins längst Realität. Aufgrund der bereits im EG-Vertrag festgehaltenen »Dienstleistungsfreiheit« ist es ohnehin möglich, billige Arbeitskräfte aus Osteuropa über dort zum Schein angesiedelte Firmen gen Westen zu entsenden. Auf pfiffige Weise können sich so international tätige Leiharbeits­firmen ein spezielles Segment weitgehend rechtloser human ressources erschließen.
Plastisch vor Augen geführt hatte dies bereits 2007 der Filmemacher Ken Loach in »It’s a Free World«. Seitdem haben sich ganze Leiharbeitskonzerne auf osteuropäische Arbeitskräfte spezialisiert. Mit der nun eingeführten unbeschränkten Arbeitnehmerfreizügigkeit könnten solche Praktiken in Deutschland gehäuft auftreten. In der Tat befördern gerade die als internationale Dienstleister getarnten Menschenhändler das Lohndumping, mit dem das Equal-Pay-Prinzip gleich auf zweierlei Weise unterlaufen wird.
Wenn man bedenkt, wie sehr sich die Unternehmer nach billigen Arbeitskräften sehnen, mag es verwundern, dass die BRD die Öffnung ihres Arbeitsmarktes so lange hinausgezögert hat. Doch dies zeigt nur, dass die Politik nicht allein von kapitalistischen Imperativen beherrscht wird. Auch die Ressentiments gegen »Fremdarbeiter«, die »uns die Arbeitsplätze wegnehmen«, wollten viele Parteien bedienen. Das tun auch die Gewerkschaften, wenn sie suggerieren, Deutschland drohe Lohndumping vor allem aus Osteuropa – und dabei verschweigen, dass Deutschland mit seinen niedrigen Löhnen selbst andere Länder Europas mit Lohndumping bedroht.
Politik ist daher stets ein Kompromiss zwischen Wirtschaftsinteressen und xenophoben Reflexen aus der Bevölkerung. Dies zeigt sich in extremer Form auch in der EU-Migrationspolitik im Mittelmeerraum. Denn sehr wohl haben die EU-Länder einen Bedarf an billigsten – illegalisierten – Arbeitskräften. Das Grenzregime mit seinen vielfältigen Barrieren kann als System verstanden werden, das entrechtete Arbeitskräfte produziert. Es schafft die Voraussetzungen für besonders profitable Ausbeutung. Die EU kann ihren privilegierten Bürgern Stärke demonstrieren und zugleich der Wirtschaft billigste Arbeitskräfte zuführen. Der Widerspruch zwischen der Öffnung der Arbeitsmärkte innerhalb der EU und der Abschottung nach außen ist keiner – in beiden Fällen geht es darum, dafür zu sorgen, dass auf dem Arbeitsmarkt verschiedene Formen ausbeutbarer Arbeitskraft zu haben sind.