Die neue Freizügigkeit für Arbeitnehmer in Europa

Keine Angst vor Konkurrenz

Gewerkschaften fordern zum 1. Mai die Einführung eines Mindestlohns, damit die neue Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht zum Lohndumping führt. Arbeitgeberverbände und Bundesregierung spielen diese Gefahr herunter, die NPD nutzt die Stimmung für rassistische Hetze.

Lange waren sie EU-Bürger zweiter Klasse: Tschechen, Esten, Letten, Litauer, Ungarn, Polen, Slowenen und Slowaken. Denn obwohl ihre Staaten mit der ersten Ost-Erweiterung bereits 2004 Teil der EU wurden, galt die Arbeitnehmerfreizügigkeit für sie nicht. Nun wird diese Übergangsregelung fallen: Vom 1. Mai an können Angehörige dieser acht Staaten in der ganzen EU nach Arbeit suchen. 2014 folgen Bulgarien und Rumänien.
Dass es erst jetzt so weit ist, liegt vor allem an Ängsten und fremdenfeindlichen Ressentiments, die die Aufnahme der Schwellenländer im Osten Europas seinerzeit ausgelöst hatte. Angesichts des starken Einkommensgefälles fürchteten damals viele – nicht nur in Deutschland – ein verstärktes Lohndumping und die Demontage der Sozialstandards. Die neuen Mitgliedsstaaten erhielten daher zunächst nicht die vollen Rechte.
Diese Befürchtungen hatten auch die großen Wirtschaftsforschungsinstitute befördert. Der wirtschaftsliberale Präsident des Münchner Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, etwa sagte 2004: »Die Länder der EU stehen schon heute in einem Abschreckungswettbewerb, um die Wohlfahrtsmigration zu begrenzen und den Sozialstaat trotz Immigration finanzierbar zu halten.« Dieser Wettbewerb werde sich verschärfen. Er rechne damit, dass in den kommenden Jahren noch viele Reformen nach dem Vorbild der Agenda 2010 folgen würden. »Dadurch wird im Laufe der Jahre der westeuropäische Sozialstaat erodieren.«
Ein Problem sah Sinn darin nicht – bekanntlich forderten er und andere liberale Ökonomen ja seit langem genau dies. Bei vielen Arbeitnehmern lösten solche Prognosen Ängste aus. »Die Osterweiterung ist auf jeder Versammlung Dauerthema und man merkt, wie ohnmächtig die Leute dem gegenüberstehen«, sagte damals der Sprecher der IG Bauen Agrar Umwelt, Michael Knoche. »Historisch ist der Prozess richtig, aber es gibt unendliche Probleme«, befand sein damaliger stellvertretende Bundesvorsitzender, Hans-Joachim Wilms. Der DGB half, die Übergangsfristen durchzusetzen. »Ziel ist es, die Lohnkonkurrenz nicht sofort durchschlagen zu lassen«, erklärte der DGB-Sprecher Hilmar Höhn.
Sieben Jahre ist das nun her. Seither wurden mehr als 200 000 Arbeitsgenehmigungen an zugewanderte Beschäftigte erteilt – stets allerdings unter der Voraussetzung, dass die Arbeitgeber den gleichen Lohn für zuwandernde und inländische Beschäftigte zahlten. Ob dies eingehalten wurde, ist in vielen Fällen fraglich. Fest steht aber, dass nicht Polen oder Ungarn den hiesigen Beschäftigten das Leben schwermachten, sondern die Hartz-Reformen von SPD und Grünen, ein dadurch ausgelöster Boom der Leiharbeit sowie eine ökonomische Situation, in der die Tarifverhandlungen dazu führten, dass Deutschland hinsichtlich der Einkommensentwicklung Schlusslicht in Europa geworden ist.

Verdi-Chef Frank Bsirske befürchtet nun, »dass viele Zuwanderer bereit sein werden, zu nied­rigeren Löhnen zu arbeiten, als sie in Deutschland üblich sind«. Dies hat auch damit zu tun, dass Deutschland – im Gegensatz zu fast allen anderen EU-Staaten – keine allgemeinen Mindestlöhne festgelegt hat. Die osteuropäischen Arbeitskräfte sind hieran jedoch am allerwenigsten Schuld. Bsirske jedenfalls fürchtet einen »neuen Wettbewerb, eine Abwärtsspirale, in der Unternehmen, die billigere Arbeitskräfte aus Ost- und Mitteleuropa einsetzen, diejenigen Firmen verdrängen, die bessere Löhne zahlen und sozialere Arbeitsbedingungen gewähren«. Ähnlich äußert sich der Fraktionsvorsitzende der Partei »Die Linke«, Gregor Gysi. Er glaubt, dass »als Folge hier wieder Polen und andere Osteuropäer zu Billigstlöhnen arbeiten«. DGB-Chef Michael Sommer gibt sich mehr Mühe, keine Ressentiments zu bedienen. »Die Menschen, die als Fachkräfte aus anderen Ländern kommen, fragen sich, ob sie in Deutschland überhaupt willkommen sind«, sagt er. »Es muss eine größere Bereitschaft geben, Menschen zu integrieren. Wir müssen junge Esten, Polen oder Slowaken willkommen heißen als gleichberechtigte Menschen – und dürfen sie nicht abtun, als Billiglöhner, die man ausbeuten kann.«
Genau das kann man derzeit aber sehr wohl – und Sommer weiß das natürlich genau. Grund dafür ist vor allem die Entsenderichtlinie, die ausländische Firmen nur an die Tarifverträge bindet, die in ihrem Herkunftsland gelten. Dies wird zwar durch das deutsche Entsendegesetz eingeschränkt – aber nur für sehr wenige Branchen. Einen ähnlichen Effekt hat die EU-Dienstleistungsfreiheit – auf diesem Gebiet fallen am 1. Mai alle bislang geltenden Beschränkungen für Osteuropa weg. In der Leiharbeits-Branche fürchten viele ein besonders drastisches Lohndumping. Im Aufruf des DGB zum 1. Mai heißt es: »Wir ­begrüßen die Arbeitnehmerfreizügigkeit in Europa. Mobilität muss aber unter fairen Bedingungen gestaltet werden. Für entsandte Beschäftigte sowie Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter gilt: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit! Sie dürfen nicht als Lohndrücker missbraucht werden.« Beim Appell belässt man es allerdings nicht: Im Zusammenhang mit der Öffnung des Arbeitsmarktes fordert das DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach eine »deutliche Aufstockung des Personals der Finanzkontrolle Schwarzarbeit«.
Die Arbeitgeber hingegen sehen dem 1. Mai optimistisch entgegen. »Die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit wird sich gesamtwirtschaftlich positiv auswirken und dazu beitragen, unseren Fachkräftebedarf zu sichern«, sagt Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt. Die Sorge, dass massenhaft Arbeitskräfte zu niedrigen Löhnen nach Deutschland strömen, sei »unberechtigt«.
Tatsächlich weiß niemand so genau, wie viele Menschen aus Osteuropa in Deutschland Arbeit suchen und hier leben wollen. Die Prognosen allerdings zeigen: Sonderlich viele werden es wohl nicht werden. Die Bundesanstalt für Arbeit (BA) etwa rechnet aktuell mit bis zu 140 000 Zuwanderern im Jahr. Dies werde sich am Arbeitsmarkt kaum bemerkbar machen und sei weit weniger, als Deutschland angesichts des Fachkräftemangels benötige. »Deutschland ist weniger attraktiv, als viele glauben. Junge, gut ausgebildete Osteuropäer gehen oft lieber nach England«, sagt der Chef der BA, Frank-Jürgen Weise. Großbritannien hatte seine Grenzen für osteuropäische Arbeiter schon vor Jahren geöffnet. Weises Vorgesetzte, die Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen, prognostiziert einen noch geringeren Zustrom: »Wir rechnen mit rund 100 000 Personen.« Die meisten, die kommen würden, seien »jung und gut qualifiziert«, behauptete sie. »Uns geht nicht die Arbeit aus, uns gehen im Augenblick die Arbeitskräfte aus, und das wird in den nächsten Jahren noch zunehmen.« Allerdings müsse man »am unteren Rand des Arbeitsmarktes aufpassen, dass Flexibilität nicht in Ausnützen umschlägt«.
Die NPD hat sich indes an dem Thema festgebissen. Wohl ahnend, dass das Schlagwort von den »osteuropäischen Billigarbeitern« noch immer hervorragend geeignet ist, um fremdenfeindliche Reflexe bis weit in die politische Mitte hinein auszulösen, hat sie ihre kompletten Aktivitäten um den 1. Mai dem Thema Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Stimmungsmache gegen Osteuropäer gewidmet. Sie hetzt: »Grenzen dicht für polnische Lohndrücker!« Auch nach dem 1. Mai wird die NPD in Mecklenburg-Vorpommern wohl mit antipolnischer Hetze Wahlkampf machen. 2009 hatte sie im sächsischen Wahlkampf bereits Plakate mit der Aufschrift »Polen-Invasion stoppen!« aufgehängt.

Den 1. Mai wollen in diesem Jahr aber auch andere nutzen, um gegen rassistische Vorurteile und für die Solidarität der Arbeiterinnen und Arbeiter zu streiten. Das »Migrar-Netzwerk« der »Gewerkschaftlichen Anlaufstellen für ArbeiterInnen mit und ohne Papiere« zum Beispiel. Sie haben einen Aufruf verfasst und in neun Sprachen übersetzt, den sie bundesweit auf den Gewerkschaftskundgebungen am 1. Mai verteilen wollen. Da­rin heißt es: »Angstmache vor sogenannter ›Konkurrenz aus dem Osten‹ hat viel mit Spaltung und nichts mit Solidarität und sozialer Gerechtigkeit zu tun.« Tatsächlich sei zu befürchten, dass einige Branchen die Freizügigkeit für eine neue Runde des Lohndumpings nutzen könnten. Die DGB-Forderung nach einem allgemeinen Mindestlohn sei deshalb richtig – müsse aber verbunden werden »mit einem klaren ›Willkommen‹ und einer solidarischen Unterstützung aller Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeiter«. So dürfe die Durchsetzung des Mindestlohnes »nicht mit Razzien gegen Arbeiterinnen und Arbeiter erkauft werden, die hier ein besseres Einkommen als in ihren Herkunftsländern suchen«. Vielmehr solle der Mindestlohn »den Kolleginnen und Kollegen aus Osteuropa ein Werkzeug an die Hand geben, sich gegen Ausbeuter zu wehren«.
Die gewerkschaftlichen Strategien liefen bisweilen faktisch darauf hinaus, Arbeitnehmerschutzrechte zu instrumentalisieren, sagt Olaf Bernau von der an Migrar beteiligten Initiative »Du hast Rechte!«. »Implizit heißt das: Wenn man nur hier die Standards hoch genug hängt, dann lohnt sich das für die Arbeitgeber nicht und dann wird schon niemand kommen.« Dabei müsse klar sein, dass sich Arbeitnehmerschutzrechte »gegen die Arbeitgeber richten, und deswegen sollen auch alle in den Genuss dieser Schutzrechte kommen. Eine Konkurrenz zwischen den Arbeitern darf es aber nicht geben«.