Hat in Kolumbien Opfer der Überschwemmungen vom vergangenen Herbst besucht

La Niña bringt Zerstörung

Kolumbien leidet seit dem vergangenen Herbst unter heftigen Überschwemmungen. Fast drei Millionen Menschen sind nach Angaben der Regierung betroffen. Sie rief zur Solidarität auf, und die Resonanz war überwältigend. Bis heute wurden mehr als 137 Milliarden kolumbianische Pesos von Privatpersonen gespendet, hinzu kommt die offizielle Hilfe. Doch bei den Betroffenen kommt kaum etwas an.

Don José steht im weißen Hemd am Rande des matschigen Untergrunds und nimmt die Besucher in Empfang. Vorsichtig klettern die drei jungen Frauen mit den pinkfarbenen Westen, auf denen »Diözese Montelíbano« und »Pastoral Social« zu lesen ist, aus dem Boot. Von starken Händen, die sie über die Pfützen und die tiefen matschigen Furchen am Ufer heben, werden sie in Empfang genommen. Dann stehen die drei kirchlichen Helferinnen auf festem Grund. Ihnen folgt Padre Javier Márquez Acosta, der sich mit schwarzen Gummistiefeln ausgestattet hat und die Menschen mit einem freundlichen Lächeln begrüßt. Der Pater ist zum dritten Mal in Sincelejito, gemeinsam mit den drei Frauen arbeitet er für die kirchliche Hilfsmission. Ein großes, mit Lebensmitteln bepacktes Boot soll alsbald in der kleinen Siedlung im Nordosten Kolumbiens anlanden.
Die Region steht zu großen Teilen unter Wasser, in Sincelejito ist die Situation besonders schlimm. An der Hauptstraße des Dorfes, an der sich die Häuser entlangreihen, steht jedes zweite Haus unter Wasser. Unterhalb der Straße legen heute die flachen Boote an, die canoas. Mit denen sind die Leute in der Ciénaga von Ayapel unterwegs. Die liegt südlich von Montería, der Hauptstadt des Verwaltungsdistrikts Córdoba, und von dort bis in die kleine Provinzstadt Ayapel sind es rund drei Stunden Fahrtzeit. Aus Ayapel kommen nahezu sämtliche Hilfstransporte in die von mehreren Flüssen durchzogene Region. »Mindestens 50 000 Familien leben hier im natürlichen Schwemmland vom Río Cauca und dem San Jorge. Hochwasser ist relativ normal in der Region«, erklärt Pater Márquez. Er kennt viele der Dörfer, die von der Fruchtbarkeit ihrer Böden leben. Die Bewohner haben gelernt, mit den immer wieder über die Ufer tretenden Flüssen zu leben. »Doch so wie jetzt war es noch nie«, sagt Don José, der Wortführer der kleinen Gemeinde. »Viele Leute haben sich aus Brettern eine zweite Ebene in ihre Häuser gebaut, weil sie keine Alternative haben und nicht weggehen wollen.« Heute werden die Familien, die in dem kleinen Dorf und drumherum leben, ­Lebensmittelhilfe bekommen und so zumindest für ein paar Tage nicht mit dem Hunger kämpfen müssen. Aber die zentrale Frage in Sincelejito bleibt, ob das Wasser abläuft.
Seit dem Spätsommer des vergangenen Jahres haben die Flüsse der Region die Niederschläge nicht mehr aufnehmen können. Der Río Cauca ist an vielen Orten über die Ufer getreten, und am Río Magdalena, dem größten Fluss des Landes, brach im Dezember ein Damm auf einer Länge von 214 Metern. Das sorgte für einen gigantischen Rückstau in Flüssen wie dem Río Cauca und unzähligen kleineren wie dem San Jorge. Das Wasser drückte in Schwemmgebiete wie die Ciénaga von Ayapel, wodurch die Situation für die dort lebende Bevölkerung verheerend geworden ist. Verantwortlich dafür macht die Regierung das Klimaphänomen »La Niña«, nach Einschätzung der Meteorologen könnten die Regenfälle noch bis zum Sommer anhalten.

Für die Menschen in Sincelejito ist das ein bedrohliches Szenario, denn viele Häuser sind beschädigt und die Menschen müssen improvisieren. Längst sind die canoas das wichtigste Transportmittel. Vorsichtig muss man mit ihnen umgehen, denn knapp unter der Wasseroberfläche befinden sich hier und da die Holzpfähle von Weidezäunen, zwischen denen Draht gespannt ist. Kundige Bootsführer wissen das, und ein solcher steuert auch das flache Boot, mit dem die Hilfsgüter für Sincelejito aus Ayapel unterwegs sind. Derweil haben die drei Frauen von der Pastoral Social unter einem riesigen Mangobaum ihr mobiles Büro aufgeschlagen. Auf vorbereiteten Listen finden sich die Namen der Familien, die Hilfsgüter erhalten sollen. Die Menschen sind längst eingetroffen. Im Schatten warten sie geduldig, bis sie an der Reihe sind, um ihren Namen auf den Listen zu suchen, gegenzuzeichnen oder ihren Fingerabdruck zu hinterlassen und später, unten am Ufer, die Hilfsgüter in Empfang zu nehmen. »Jede Familie erhält einen Sack mit Grundnahrungsmitteln wie Speiseöl, Mais, Bohnen, Reis und dergleichen sowie noch zwei Packungen mit Keksen und Crackern«, sagt die Sozialarbeiterin Liliana Gámez von der Pastoral Social. Sie koordiniert mit zwei Kolleginnen die Verteilung der Nothilfe, die von der deutschen Diakonie Katastrophenhilfe stammt, die ein Regionalbüro in Bogotá unterhält. Die Kirche ist dank ihrer Gemeinden derzeit die wichtigste Hilfsorganisation in der überfluteten Region und verteilt, was bei ihr ankommt. Die deutsche Diakonie Katastrophenhilfe war bereits mehrfach in der Region tätig und prüft derzeit, ob Wiederaufbauhilfe in Form von Projekten wie dem Bau stabiler Häuser auf Stelzen möglich ist.
Vom Staat kann man das nicht behaupten. »Die Acción Social hat sich hier bisher nicht gezeigt«, ärgert sich Rugero Manuel Avila. Der 65jährige sitzt gemeinsam mit José Achipo López unter einem Baum im Schatten und wartet wie viele andere darauf, dass die Säcke mit den Lebensmitteln ankommen und verteilt werden. »Unsere Situation ist verheerend, denn die meisten haben ihre Ernte verloren, kein Saatgut mehr, und auch viele Obstbäume sind kaputtgegangen. Obendrein steigt der Pegel, anstatt zu sinken. Was sollen wir machen? Wir sind auf Hilfe von außen angewiesen«, schildert der Bauer die prekäre Situation. Sein Haus haben die Fluten verwüstet, und wie viele andere lebt er unter schwierigen Verhältnissen. Doch trotz aller Ankündigungen bleiben die Hilfsprogramme vom Staat, wie etwa die Acción Social, aus. Dabei hat die Regierung im Dezember alles in Bewegung gesetzt, um den Menschen in der weitläufigen Flutregion zu helfen. Präsident Juan Manuel Santos forderte nach dem Dammbruch am Río Magdalena im Dezember seine Landsleute auf, den Flutopfern zu helfen. Mit Erfolg, denn die für kolumbianische Verhältnisse gigantische Summe von mehr als 137 Milliarden Pesos, umgerechnet rund 55 Millionen Euro, kam zusammen. Ein ungewöhnlich deutliches Zeichen der Solidarität in dem vom Bürgerkrieg gezeichneten Land. Auch zahlreiche namhafte Musiker und Bands wie Carlos Vives, Doctor Krápula oder Choc Quib Town griffen zum Mikrofon. »Doch rund vier Monate später ist von der Hilfswelle in der Region rund um Ayapel kaum etwas angekommen«, klagt Pater Márquez. Er ist persönlich gekommen, um mit den Sprechern der Gemeinden und Vertretern der Diakonie Katas­trophenhilfe über das weitere Vorgehen zu beraten.
Aber das ist alles andere als einfach, denn die Bauern sind ratlos, weil sie zum einen Wiederaufbauhilfe benötigen, zum anderen nicht wissen, wie sie denn neu anfangen sollen. »Der Damm am Río Magdalena ist immer noch nicht wieder aufgebaut, und solange der nicht geschlossen ist, drängt immer neues Wasser in die Region«, sagt Berta Oviedo. Sie ist eine der Sprecherinnen des Dorfes. »Wir brauchen ein richtiges Konzept, wie wir mit der Hochwassersituation umgehen sollen«, fügt sie mit sorgenvoller Miene hinzu. »Seit fünf Jahren haben wir jedes Jahr mit Hochwassern zu tun«, ergänzt Marina Bravo, eine weitere Bewohnerin aus dem Dorf, und fährt fort: »Jedes Mal vertrösten uns die Leute aus Bogotá.«
Dass kein Geld für den Bau zusätzlicher Dämme vorhanden ist, ist die eine Sache, dass die Spenden bei den Betroffenen nicht ankommen, eine andere. Darüber sind die Menschen in der Region verärgert, und sie mutmaßen auch, wer dafür verantwortlich ist. »Alles läuft über Córdoba, und dort bleibt das Geld liegen«, schimpft Humberto Parra, der wie viele andere auf die Verteilung der Hilfsgüter wartet und derweil hier und da ein Schwätzchen hält. So halten es viele Leute, und dabei ist die Spendenverteilung ein wichtiges Thema. Die laufe wirklich alles andere als gut, kritisiert Pater Márquez. Er rät den Leuten, genau zu überlegen, für wen sie bei den im Oktober anstehenden Regionalwahlen stimmen. Korruption und die Selbstbedienungsmentalität in den staatlichen Ämtern macht er dafür verantwortlich, dass nur ein Bruchteil der Hilfe für die Flutopfer in den abgelegenen Dörfern auch ankommt.
Mit lauten Rufen kündigt sich die Ankunft des langen Lastkahns an, der die Säcke mit Hilfsgütern aus Ayapel bringt. Gerade vertäut der Bootsführer sein Boot am schlammigen Ufer neben einem anderen Lastkahn. Den besteigen die ersten Familienväter, um sich ihren Sack und die Packung mit Keksen und Crackern abzuholen. Erst lassen sie aber noch eine der Frauen der Pastoral Social vorbei, die die Verteilung anhand der Listen überwacht. Sack für Sack landet auf den Rücken der Männer. Die Packungen mit Keksen und Crackern geben sie gleich an die Kinder und Frauen weiter.
So ein Tag ist alles andere als normal in dem kleinen Dorf, in dem rund 500 Menschen leben. 1 000 Familien seien es insgesamt in diesem Abschnitt der weitläufigen Seenlandschaft, die Weide- und Anbauflächen bedeckt, sagt Pater Márquez. Der Mann von Anfang vierzig kennt die Strukturen im Departamento Córdoba. Seit mehr als zehn Jahren arbeitet er in dem Verwaltungsdistrikt, der als die Wiege des Paramilitarismus gilt und eine Domäne der Viehzüchter ist. Zentralistisch verlaufen die Strukturen, und in Montería, der Distrikt­hauptstadt, laufen alle Fäden zusammen. »Dort hat die Handelskammer ihren Sitz, die für die Verteilung der Spenden verantwortlich ist. Bewusst hat die Regierung diese Form der Verteilung gewählt, um für mehr Transparenz und Gerechtigkeit zu sorgen«, erzählt der Pfarrer und setzt sich auf einen Stuhl unter den mächtigen Mangobaum auf dem mittlerweile nahezu leeren Platz. Die meisten Familien sind in Booten, zu Pferd oder zu Fuß mit ihren Säcken abgezogen, und die Kirchenleute haben etwas Zeit zum Verschnaufen. »Wir versuchen, die Gemeinden, die Dörfer zu stärken. Nicht nur mit der Nothilfe, sondern auch mit Ratschlägen, wie man sich besser organisieren, besser auftreten kann gegenüber den Verantwortlichen auf regionaler und lokaler Ebene.«
Letztlich bleibe die Hilfe auf halbem Wege stecken, »wegen der Korruption, wegen der schlechten Administration, wegen der bürokratischen Hindernisse und eben auch, weil diese Gemeinden hier nicht sichtbar sind. Es ist nicht einfach, zu ihnen zu kommen, und auch sie kommen nicht nach Montería, um dort auf ihre Situation aufmerksam zu machen«, sagt Márquez. »Für die betroffenen Dörfer ist das ein Drama, und obendrein wird alles und jedes in Kolumbien politisiert. Die Politiker versuchen, staatliche Fonds für ihre eigenen Interessen zu nutzen, und das findet hier gerade statt«, sagt der Geistliche. Das bestätigen auch Berichte anderer Organisationen, die monieren, dass Bürgermeister auf vollen Lagern sitzen, deren Inhalt sie zurückhalten, um ihre eigene Wahlkampagne bei den Kommunalwahlen im Oktober zu finanzieren. Das trage zur Landflucht bei und führe mehr und mehr zu Gewalt, meint Márquez.

Eine Einschätzung, die in Montería bei der Ombudsstelle für Menschenrechte geteilt wird. Den dortigen Studien zufolge ist die Region von Ayapel, wozu eben auch die Ciénaga mit Dörfern wie Sincelejito gehört, ein Risikogebiet. »Es fehlt an sozialen Investitionen und an Perspektiven. Das trägt wesentlich zur Rekrutierung von Kindern und Jugendlichen durch die Guerilla oder die Paramilitärs bei«, sagt die Leiterin der Ombudsstelle in Montería, Julia Rodríguez. Das Ausbleiben der Lebensmittelhilfen für die Flutopfer trage ebenfalls unweigerlich dazu bei, und nach Pressemeldungen haben mindestens 44 000 Familien allein im Distrikt Córdoba keine Hilfslieferungen erhalten. Das sind Nachrichten, die bei den Spendern nicht gerade auf Begeisterung stoßen. »Die Solidarität könnte beim nächsten Mal schon deutlich geringer ausfallen«, mahnt Márquez und verabschiedet sich von Don José mit einem Händedruck. Dann geht er zum Boot, das ein paar Schritte weiter schon mit laufendem Motor am Ufer liegt. Als alle Helfer eingestiegen sind, gibt der Pater das Zeichen zum Aufbruch, und zügig nehmen die beiden Boote Fahrt auf.