Die Deutschen und ihr Benzin

Der Blutkreislauf der Nation

Die Diskussionen über die Autoindustrie in Baden-Württemberg und den »Bio-Kraftstoff« E 10 zeigen: Benzin gilt in Deutschland als ganz besonderer Saft.

Baden-Württemberg entwickelt sich zur Avantgarde neudeutscher Verkehrspolitik. Repräsentierte Süddeutschland bis in die neunziger Jahre hinein den Anspruch der heimischen Automobilindustrie, Tradition und Moderne, Familienunternehmen und Weltkonzern harmonisch miteinander zu verbinden, werden die Restbestände der bürgerlichen Vergangenheit nun geschliffen. Das »neue Bürgertum«, das im Zuge der Proteste gegen »Stuttgart 21« mit Baumumarmungen, paramilitärisch anmutenden Gelöbnissen und anderen Happenings auf sich aufmerksam machte, wählt nicht zufällig mehrheitlich grün und bedient sich Formen politischen Handelns, die eher aus dem alternativen Milieu als aus christdemokratischen Ortsvereinen bekannt sind.

Wurde die Heimatliebe seiner wertkonservativen Vorgänger mitunter noch durch das Bewusstsein gemildert, dass der Fortschritt nun einmal seinen Preis habe und die Scholle mitunter dem modernen Fernverkehrsnetz weichen müsse, wenn es um die Durchsetzung nationaler Interessen geht, so besteht für dessen ökologisch gewendete Enkel zwischen Regression und Hochtechnologie längst kein Widerspruch mehr. Denn nun gibt es ja Windräder, Solarzellen, »klimasensible Technik« und »Bio-Treibstoff«, die es dem aufgeklärten Flurschützer erlauben, den Rückbau der Gesellschaft zum Naturzustand als einzig vernünf­tigen Weg in eine bessere Zukunft anzupreisen.
So macht derzeit eine biopolitische Metapher die Runde, in der die Transfusion von Gesellschaft in Natur auf besonders abstoßende Weise zum Ausdruck kommt. »Jede baden-württembergische Landesregierung hat Benzin im Blut«, versicherte Nils Schmid, Landesvorsitzender der SPD in Baden-Württemberg, kürzlich der Öffentlichkeit. Zuvor hatte sein Koalitionspartner, der zukünftige Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne), sich etwas vorschnell für »weniger Autos« und neue »Mobilitätskonzepte« ausgesprochen, was Horst Seehofer (CSU) und andere Freunde der Autoindustrie erbost hatte.
Das Bild vom »Benzin im Blut« hat sich, wie es nur mit authentischen Phantasmen geschieht, längst zu einer Sprachwolke verselbständigt, in der sich allerlei Unbewusstes kondensiert. Das Ber­liner Boulevardblatt B.Z. berichtete im April in einer kurzen Notiz von einer Mercedes-Rallye zugunsten Berliner Heimkinder, für die »Helden mit Benzin im Blut« gesucht würden. Und Ende vergangenen Monats fragte ein Interviewer des Berliner Tagesspiegel den BMW-Personalvorstand Harald Krüger, ob die »Männer-Netzwerke in der Autoindustrie, in der die ›Car-Guys‹ mit ›Benzin im Blut‹ das Sagen haben«, wirklich »undurchlässig« für das andere Geschlecht seien. Worauf dieser wie erwünscht konterte: »Auch Frauen haben Benzin im Blut.«
Benzin, so wird aus diesen Zitaten ersichtlich, ist für die Deutschen nicht einfach nur ein vorläufig unabdingbares Mittel, um so schnell wie möglich von der Wohnung zur Arbeit und zurück zu kommen, sondern ein ganz besonderer Saft. So wird auch die Diskussion um das »Bio-Benzin« E 10 mit einem Vokabular geführt, das nahelegt, es gehe nicht um eine rationale Abschätzung von Kosten und Nutzen, sondern um ein heikles Experiment am Volkskörper, dessen Folgen einstweilen unabsehbar seien. Karin Retz­laff vom deutschen Mineralölwirtschaftsverband etwa klagte, die »politisch vorgegebene Einführung« des unbeliebten Treibstoffs habe die »Lieferprobleme« zu Ostern verschärft und bedenkliche »Engpässe« verursacht, und in diversen Polittalkshows wurde angesichts des vor den Feiertagen angestiegenen Benzinpreises darüber diskutiert, wie das »Bio-Benzin« von den Deutschen »angenommen« würde.

Die Zeiten, in denen der unpolitische Bürger sich durch die Überzeugung auszeichnete, der Strom komme aus der Steckdose, das Wasser aus dem Hahn und das Geld aus dem Automaten, sind offenbar endgültig vorbei. Vielmehr fragt er sich heutzutage mit ständig wachem politischen Gewissen, wie er beim Staubsaugen das Ökosystem schützen kann, welche fiesen Keime sein Trinkwasser enthalten mag und wie sein Abhebe- und Einzahlverhalten den globalen Wirtschaftskreislauf beeinflusst. Entsprechend wird auch das Verkehrssystem inzwischen als eine Variante des Ökosystems halluziniert. Es soll nicht nur funktionstüchtig, sondern auch gesund sein und muss atmen können, damit keine überflüssigen Staus, gefährlichen Engpässe oder allergischen Reak­tionen hervorgerufen werden. Ein Treibstoff, dessen Einführung »politisch vorgegeben«, also nicht vom Volkskörper selber ausgeschwitzt worden ist, droht dieses Gleichgewicht zu stören, selbst wenn er »natürlicher« ist als der, den er ersetzen soll. Kein Wunder also, dass er von den Menschen nicht recht »angenommen« und wie ein Fremdkörper vom Verkehrskreislauf ausgestoßen wird.
Doch wer glaubt, diese Allergie müsse von Dauer sein, unterschätzt die Lernfähigkeit des neuen Wutbürgertums, dessen erotisches Verhältnis zur heimischen Kraftstoffkultur durch die ökologische Wende langfristig nur intensiviert werden kann. Dass die Deutschen Benzin nicht nur im Blutkreislauf, sondern auch in zahlreichen anderen Körperteilen haben, hört man bereits ihrer Alltagssprache an. Nur hier geht man in die freie Natur, um mal wieder richtig aufzutanken, und zur Tanke, um sich mit Sprit für den Feierabend zu versorgen, nur hier startet man durch, um die Konkurrenz zu überholen, achtet dabei trotzdem immer auf seine Pumpe und wechselt auf die Überholspur, wenn alles im grünen Bereich ist. Und nur hier wird jeder Provinzblattartikel über gestiegene Benzinpreise mit Großaufnahmen von unappetitlich ejakulierenden Zapfhähnen illustriert, ohne dass das Sittendezernat einschreitet. Wenn Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) lange genug auf die »Sprit-Konzerne« geschimpft hat, die keine »ausreichende Versorgung« bereitstellen und die Bürger mit »leeren Tanks« zurücklassen, dürfte sich die besondere Attraktivität des »Bio-Benzins« bald herumsprechen. Wenn dieses dann noch einen Namen bekommt, der nicht zu stark an ein künstliches Konservierungsmittel erinnert, könnte die Stimmung wohl sogar umschlagen und zur fröhlichen Jagd auf alle geblasen werden, die sich durch umweltschädigendes Tanken am Gemeinwohl vergehen.

Früher galt das Auto den Deutschen als Beweis der Vereinbarkeit von Bodenständigkeit und Moderne. Man konnte mit ihm innerhalb weniger Stunden die Heimat verlassen und sie dennoch, in Form folkloristischer Wimpel und handgehäkelter Klorollenschützer, immer griffbereit haben. Die Kinder dieser Autogenerationen stiegen aus Protest gegen die hässlichen Garagen ihrer Eltern aufs Fahrrad um, legten Schulgärten an und erfanden die Bionade. Heute sind die Fahrradfahrer im Berliner Alternativbezirk Kreuzberg eine größere Gefahr für Leib und Leben als jeder BMW, während die Autofahrer skrupulös darauf achten, politisch korrekt zu hupen, und sich »Atomkraft – nein danke«-Buttons auf die Windschutzscheibe kleben. Der »Bio-Treibstoff« ist das Rauschmittel, das ihnen noch fehlt, um sich mit ihrer Umwelt wieder so richtig eins und beim Auto- wie beim Bahnfahren nicht nur als Verkehrsteilnehmer, sondern als ganze Menschen zu fühlen.