Kampf um die Rote Flora in Hamburg

Status quo statt Samenbank

Der Besitzer der Roten Flora in Hamburg möchte das Gebäude loswerden. Die Besetzer und zahlreiche Unterstützer demons­trierten am Wochenende für den Erhalt des Stadtteilzentrums.

Auf dem Dach der Roten Flora wird schönste Revolutionsfolkore geboten. In weiße Maleroveralls gekleidet, stehen dort oben drei Männer und schwenken Signalfackeln. Die vor dem autonomen Stadtteilzentrum zu einer Demonstration versammelte Menge johlt entzückt über die Einlage. Vermummte Männer, Feuer, Dach – ein schönes Symbol, um das Wort »Besetzung« zu illustrieren. Spätestens jetzt wird es einigen Kaffeetrinkern, die es sich gegenüber der Roten Flora auf der Schanzen-Piazza gemütlich gemacht haben, um das Wetter und die Proteststimmung zu genießen, doch ein bisschen zu brenzlig. Schnell fahren sie ihre polierten Autos aus der vermeintlichen Gefahrenzone und geben die sonst so begehrten Parkplätze an Hamburgs »Latte-Macchiato-Strich« auf.

Nach zehn Jahren relativer Ruhe um das besetzte ehemalige Theater im Schanzenviertel waren die Befürchtungen groß, dass es am Maiwochenende anders aussehen könnte. »Wir haben alles in den Stiefeln stehen, was sich in Hamburg bewegen kann«, hatte der Landesvorsitzende der Polizeigewerkschaft, Joachim Lenders, gesagt. 2 300 Polizisten wurden für den Dienst eingeteilt. Das Schanzenviertel wurde zum Gefahrengebiet erklärt, Beamte konnten ohne Grund Personalien überprüfen und Platzverweise aussprechen. Verantwortlich für die angespannte Lage war der Besitzer der Roten Flora, Klausmartin Kretschmer. Im April hatte er erneut bekanntgegeben, das Gebäude verkaufen zu wollen – und zwar für einen Preis weit über den knapp 1,5 Millionen Euro, die der Hamburger Senat ihm zu zahlen bereit wäre.
Kretschmer ist das, was man einen »Mann der Visionen« nennt. So lag der selbsternannte Kultur­investor nach eigener Aussage einmal auf einer Wiese eines Friedhofes und döste vor sich hin. Im Schlaf habe er dann Kinderstimmen gehört. Statt sich über Freuds Traumdeutung zu informieren, baute er an dieser Stelle eine Schule. Das verriet Kretschmer der Welt, der er oft Einblicke in seine Träume gestattet. In der Zeitung verkündete er dann auch im Herbst 2010, dass ihn die Entwicklung der Roten Flora enttäuscht habe. Der Investor, der bereits im Alter von 18 Jahren Aktienmillionär gewesen sein soll, hatte sich alles ganz anders vorgestellt. Denn er sähe es lieber, wenn die Immobilie, die er 2001 für 370 000 Mark gekauft hat, nicht als besetztes Zentrum mit Volksküche, Fahrrad- und Siebdruckwerkstatt, sondern als »Gegenort«, »geistige Samenbank« und »Spielplatz für Erwachsene« genutzt würde, wie er dem Hamburger Abendblatt sagte. In Hamburg wurde daraufhin darüber diskutiert, ob er nicht vielleicht Recht habe. Die Flora sei doch nur noch eine Party-Location und solle sich nicht als politisches Zen­trum missverstehen, kommentierte etwa die Taz.

Vor der Demonstration für den Erhalt der Roten Flora am Maiwochenende waren die Fronten zwischen dem Besitzer und den Besetzern somit klar erkennbar. Kretschmer müsse weg, am Status quo dürfe sich nichts ändern, fordern die Besetzer. »Wir werden nicht über Nutzungskonzepte verhandeln. Die Flora bleibt unverträglich«, verkündete eine Sprecherin auf der Demonstration über Lautsprecher. Eine »geistige Samenbank« werde es nicht geben. Die Menge, die sich auf dem Schulterblatt versammelt hatte, applaudierte den Forderungen. Die Polizei sprach später von 5 000 Menschen, die an dem Protestzug teilgenommen hätten. Diese Zahl war durchaus beeindruckend, die Menge der Teilnehmerinnen und Teilnehmer war bunt gemischt. Neben barfüßigen Hippies, die den Geruch von Patschuli verströmten, liefen adrette Hipster mit Hut und Poloshirt. Auch Familien samt Kleinkindern und Großeltern waren vertreten – gleich hinter dem etwa 150 Personen zählenden schwarzen Block.
Kretschmer hatte der Roten Flora zuvor noch vorgeworfen, sich isoliert und »linkselitär« vom Viertel abgegrenzt zu haben. Wer sich auf der Demonstration umschaut, gewinnt eher den Eindruck, dass das Stadtteilzentrum vielen wichtig ist – wenn auch vor allem als Hort für Sonderlinge. »Die Hamburger Stadtplanung ist eine Sauerei«, sagt ein älterer Herr, der etwas verloren schon Stunden vor dem Beginn der Demonstration die Straße vor der Roten Flora auf und ab gegangen ist. »Arbeit ist die halbe Miete«, steht auf einem selbstgebastelten Pappschild, das er vor sich herträgt. Wirft man einen Blick auf die Häuserfassaden, an denen der Protestzug auf seinem Weg über St. Pauli nach Altona vorbeiführt, sieht man viele Banner mit der Aufschrift »Flora bleibt«. Als Vermummte Steine und Flaschen auf den Astraturm, ein Bürohochhaus, werfen, ist die Menge begeistert. Ein Opel Vectra der Bundeswehr, der in der Nähe geparkt worden ist, wird angezündet und sorgt für Belustigung und den einen oder anderen Schnappschuss. »Ach, so schnell brennt das«, sagt eine Frau zu ihrem Begleiter. Nur die Böller, die ständig explodieren und deren Lautstärke durchaus einen Gehörsturz verursachen können, sorgen für Ärger – und im Verlauf der Veranstaltung für drei Verletzte.

Der Senat selbst lässt sich von den Flaschen- und Steinwürfen sowie brennenden Autos ebenso wenig beeindrucken wie von den Drohungen Kretschmers, die Rote Flora an ein US-Immobilienkonsortium zu verkaufen. Der Erste Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) will nicht den gleichen Fehler machen wie seine Partei im Jahr 2001, die damals aus Angst vor einem Wahlerfolg der CDU und Ronald Schills die Flora überstürzt an Kretschmer verkaufte. Die allein regierenden Sozialdemokraten verweisen derzeit einfach auf den Kaufvertrag. Ihm zufolge kann Kretschmer zwar verkaufen, aber ein Abriss oder eine Sanierung muss von der Stadt genehmigt werden. Und eines ist sicher: Wird die Rote Flora geräumt, wie manche Medien in der vorigen Woche bereits spekulierten, bliebe es nicht nur bei Revolutionsfolklore.