Nicht ohne meine Guarneri

Berlin Beatet Bestes. Folge 97. Edith-Lorand-Orchester: Braunes Mädel von der Puszta (1924).

Keiner meiner Freunde sammelt Schellackplatten. Es ist eine einsame Leidenschaft. Ich würde mich gern mal darüber austauschen. Mit diesen Gedanken betrat ich auf meinem wöchentlichen Rundgang durch die Nachbarschaft ein Trödelgeschäft. Zielstrebig ging ich in den hinteren Raum, in dem zwei Kisten stehen, in denen ich in der Vergangenheit schon einige schöne Platten gefunden habe. Nach kurzer Zeit kam ein Mann herein, murmelte einen Gruß und beugte sich über die zweite Kiste. »Oh, ich dachte, ich wäre der einzige, der sich hier für Schellackplatten interessiert!«, sagte ich fröhlich. »Nichts Neues in den Kisten, oder?« antwortete der Mann knapp und beugte sich wieder über seine Kiste. Aber so schnell wollte ich nicht locker lassen. Jetzt hatte ich einen Sammlerkollegen in seiner natürlichen Umgebung direkt vor der Nase: »Leider nicht. Aber diese hier sieht doch ganz interessant aus, oder?« Unbeeindruckt untersuchte er die Platte: »Schade. Zerbrochen.« »Ja, aber nur am Rand. Und hier steht ›Shimmy-Fox‹ drauf. Das ist doch vielleicht Jazz?« »Naja. Ne frühe Parlophone. Nummer 1712, schätze, von 1924. In der Diskographie der deutschen Tanzmusik von Schellackpapst Rainer Lotz sind die alle aufgelistet. Kannst ja mal fragen, ob du die so kriegst«, sagte er und verschwand auch schon. Die Platte konnte ich tatsächlich kostenlos mitnehmen.
Es ist kein Jazz, aber dennoch ist es eine sehr schöne Musik. Die ungarische Geigerin Edith Lorand war wahrscheinlich die einzige Orchesterleiterin ihrer Zeit. Nachdem sie in Budapest Musik studiert hatte, kam sie 1920 als Solistin nach Berlin, wo sie bis 1934 wohnte. Für Beka, Parlophone und Odeon machte sie in den folgenden Jahren eine Vielzahl von Aufnahmen, hatte Gastspiele in Italien, England, Frankreich und der Schweiz und erreichte, auch durch regelmäßige Live-Übertragungen im Radio, ein Millionenpublikum. 1930 unterzeichnete sie einen Dreijahresvertrag mit der Lindström AG, damals einer der größten europäischen Schallplattenkonzerne, der sie für ein Honorar von 34 000 Mark dazu verpflichtete, wenigstens 144 Titel im Jahr zu veröffentlichen, im Durchschnitt sechs Schallplattenseiten pro Monat.
Als Lorand im Frühjahr 1934 in der Scala, Berlins angesehenster Varieté-Bühne, auftrat, wurde das Engagement nach nur zehn Tagen vorzeitig beendet. Um antisemitischen Angriffen zuvorzukommen, wie es hieß, wurde die jüdische Künstlerin Lorand aus dem Programm entfernt. Nachdem sie ihre Guarneri-Violine in London bei Lloyds versichert hatte, kehrte sie zurück nach Ungarn. Im Dezember 1937 flüchtete sie in die USA, wo sie bis zu ihrem Tod 1960 lebte. Nur wenige ihrer Aufnahmen sind bis heute wiederveröffentlicht, darunter ihr Titel »Nazi Nazi« auf der CD »Swing tanzen verboten – Unerwünschte Musik 1929–1953«.