Straight Edge feiert Geburtstag

Der Ausstieg aus dem Ausstieg

Er war 14 Jahre lang voll auf Saft und Tofu, dann schaffte er den Absprung aus der Drogenlosigkeit. Ein Straight-Edge-Aussteiger packt aus.

Es gab offenbar kein Entkommen. Wer seine Jugend Anfang der neunziger Jahre in der bayerischen Provinz zubrachte, konnte zwar dagegen sein, so sehr er wollte – er gehörte aber dennoch unweigerlich dazu. Denn die bayerische Gesellschaft verfügte über eine überaus wirksame, gemeinschaftsstiftende Substanz, mit der sie jeden in den Griff zu kriegen schien: Alkohol.
Mochten Atheisten, Kommunisten, Anarchisten, Skater, Punks, Autonome und andere aufrührerische Elemente ihre sturzkatholische und knarzkonservative Umgebung noch so verachten – zu zahlreichen Gelegenheiten tranken sie dennoch Brüderschaft mit denen, für die sie eigentlich nichts übrig hatten, im bier- oder weinseligen Bewusstsein, eben doch irgendwie zusammenzugehören. Und da jedes bayerische Nest selbst zu Ehren eines drittklassigen katholischen Ersatzheiligen einmal im Jahr ein Festzelt aufstellt, konnte man nicht selten zu fortgeschrittener Uhrzeit sehen, wie der lallende Dorfnazi im Bierzeltdunst mit dem ebenso narkotisierten Kleinstadtpunk anstieß.

Da kam mir Straight Edge ganz recht. Punk und Hardcore liefen ohnehin die ganze Zeit in meinem Kassettenrekorder. »I’m a person just like you / But I’ve got better things to do / Than sit around and fuck my head«, sang die Band Minor Threat im Song »Straight Edge«. Mir ging es ähnlich: Besoffen konnte ich nicht Gitarre spielen, und das tat ich zu der Zeit stundenlang jeden Tag.
Minor Threats Worte »I can’t keep up – out of step with the world« deckten sich zudem mit meiner Gefühlslage. »I don’t smoke, I don’t drink«, hieß es weiter in dem Song »Out of Step«. Dazu entschloss ich mich dann auch: Statt mir die Welt schönzusaufen, wollte ich Entfremdung pur, nüchtern, ohne Illusionen. Die Songzeile »I don’t fuck« fand ich ein wenig seltsam, schließlich hatte ich als Kind eine mehrjährige Laufbahn als Messdiener absolviert und deshalb kein Bedürfnis, erneut einem Keuschheitskult anzuhängen. Also entschloss ich mich, das Sexualleben von Ian MacKaye, dem Sänger von Minor Threat, als seine Privatsache zu betrachten und meines als meine. Vegetarier wurde ich auch noch – mein Opa war nicht nur Winzer, sondern auch Metzger, das innerfamiliäre »Fuck You« wurde durch das Ende meines Fleischkonsums bestens abgerundet.
Dass ich nun nicht mehr völlig zu den Menschen in meiner Umgebung gehörte, stellte ich mit Genugtuung an meinem ersten Straight-Edge-Silvester fest: Als es ans Anstoßen ging, konterte ich statt »Prost Neujahr!« einfach »Nein, ich trinke nicht« und erntete sehr irritierte Blicke. Dafür gehörte ich nun einem exklusiven Zirkel an. Er war derart exklusiv, dass ich der einzige Straight-Edge-Anhänger in meinem ganzen Bekanntenkreis war. Meine Verbindung zur Straight-Edge-Szene bestand aus Fanzines, Mailorder-Katalogen, in denen es auch immer Neuigkeiten über Bands zu lesen gab, und aus den Konzerten, die in größeren Städten stattfanden.
Mit der Zeit wurde mir allerdings klar, dass Straight-Edge-Bands einen ziemlich obskuren Menschenschlag anzogen und meist selbst zu ihm gehörten. Während eines Konzerts der Bos­toner Band Slapshot entblößte beispielsweise ein Zuhörer, der die markigen Zeilen »Get your booze away from me / Keep your pills out of sight / Don’t get smoke in my face / Or you’ll get the straight edge in your face« lauthals mitgeschrien hatte, seinen durchtrainierten Oberkörper. Auf seinem Rücken war in großen Lettern das Wort »Arbeit« tätowiert – weshalb ihn ein Häufchen Konzertbesucher in den Songpausen mit dem Ruf »Überstunden« anfeuerte. Slapshot und eine Reihe anderer Bands machten Musik für echte Kerle. »Kill everyone with a beer in his hand, cause if you drink you’re not a man«, sangen die Bostoner auf einer Platte. Die kalifornische Band A Chorus of Disapproval beschimpfte in ihren Texten Leute, die Drogen nahmen, als Abschaum und Verlierer und rief das »Militant Edge« aus. Auf die Anhänger solcher Bands wirkte das derart inspirierend, dass sie hauptsächlich in den USA dazu neigten, auf Konzerten Biertrinker zu verprügeln. Straight Edge war für diese Klientel ein Stahlbad für harte Jungs.

Häufig traf ich auch auf eher schmächtige Gestalten, die mir Flugblätter in die Hand drückten. Es handelte sich meist um Mitglieder irgendwelcher holländischer oder belgischer Straight-Edge-Bands, denen arg an Tieren und Pflanzen gelegen war. Auf ihren Zetteln befanden sich beispielsweise Anleitungen dazu, wie ein Jägerhochstand fachgerecht zum Einsturz zu bringen sei, Ratschläge für eine streng vegane Ernährung, Informationen zu den Erfolgen der Tierbefreiungsbewegung, Pamphlete gegen die Abholzung des Regenwalds oder Schreckensberichte über die Fleisch­industrie. Diese Naturschützer sahen zwar meist recht harmlos aus, waren aber oft reichlich fanatisiert, weshalb man sie zu einem großen Teil nur als Ökofaschisten bezeichnen konnte.
Die wohl erfolgreichste Band dieser Fraktion hieß Earth Crisis. Sie sang vom »Ökozid« und forderte Rache an der Menschheit im Namen von Flora und Fauna: »If you refuse to change, then you’re guilty and must be destroyed / You’re a demon with blood on your hands, your death will bring their freedom / Your selfishness destroys the earth.« Ihrer Mission folgten Earth Crisis »for the fetus, for the cat, for the cow, for the rat«. Ihr Herz für Föten und das »ungeborene Leben« hatten Straight-Edge-Anhänger mittlerweile nämlich auch noch entdeckt. Ein besonders irrsinniges Grüppchen, die Hardline-Bewegung, bejubelte sogar Anschläge auf Abtreibungskliniken.
Auf einem anderen Konzert erhielt ich keine Flugblätter, stattdessen drückten mir Hare-Krishna-Jünger eine braune Masse zum Verzehr in die Hand. Ich hielt den Batzen zunächst für Schokolade, was sich aber mit dem ersten Bissen und dem einsetzenden Würgereiz als großer Irrtum herausstellte. Bis heute weiß ich nicht, was ich da im Mund hatte. Krishnas verteilten nicht nur schlechtes Essen, sondern machten auch Musik. Bands wie Shelter oder 108, die in New Yorker Krishna-Tempeln ihren Verstand gegen die Lehre von Abhay Charan Bhaktivedanta Swami Prabhupada eingetauscht hatten, predigten der Straight-Edge-Szene »Spiritualität« – die im Wesentlichen daraus bestand, Sex nur in der Ehe und zu Fortpflanzungszwecken zu haben, kein Fleisch zu essen und gottesfürchtig zu sein.
Eine andere Band hielt es hingegen weniger mit Gott als mit dem Teufel. Integrity aus Cleveland sangen auf ihrer ersten Single noch: »One life, drug free«. Später ging es in ihren Texten meist um Dämonen, Satan und den Weltuntergang, was für Freunde des Horrorfilms durchaus unterhaltsam war. Auch dass der Sänger mit teuflisch gefärbten Kontaktlinsen und einem T-Shirt mit einem aufgedruckten Foto von Charles Manson auf die Bühne kam, konnte man noch als standesgemäßen Mummenschanz durchgehen lassen. Irgendwann pflegten Integrity dann aber Beziehungen zur amerikanischen Sekte Church of Satan und dem Industrial-Musiker und bekennenden Faschisten Boyd Rice, was das Maß des Erträglichen dann doch überschritt.
Es war also kaum von der Hand zu weisen: Die Straight-Edge-Szene bestand aus Machos, Ökos, Esos – und einem kleinen Häuflein, das glücklicherweise nicht den Verstand verloren hatte. Die Kalifornier Chain of Strength waren beispielsweise eine sympathische Band. Die Musiker gaben nicht die harten Kerle, sondern sahen aus wie die netten Jungs von nebenan, weswegen sie manchmal spöttisch die New Kids on the Block des Straight Edge genannt wurden. Und in einem Interview bekundeten sie, dass sie nichts Schlimmes an einem Schlückchen Bier fänden, weshalb sie von den Hütern des wahren Glaubens arg angefeindet wurden. Monster X aus New Jersey waren wohl die einzige Straight-Edge-Band, die einen Song im Programm hatte, in dem die Legalisierung aller Drogen gefordert wurde. Zudem spielten Monster X Grindcore, waren also schneller, kaputter und übergeschnappter als die unzähligen Bands, die alle gleich klangen und mein Interesse an der musikalischen Seite von Straight Edge allmählich schwinden ließen.

Die Musik hörte ich irgendwann nicht mehr, Straight Edge war ich immer noch: Mittlerweile konnte ich aus dem grauen Glibberkram Tofu genießbare Speisen zubereiten und Bratlinge aus allen möglichen Getreide- und Gemüsesorten herstellen. Und ich war Gewohnheitsabstinenzler, meine Trinkstörung gehörte zu mir wie die Flasche Korn zum Gewohnheitstrinker. Ich experimentierte mit allen möglichen Substanzen: Kirschsaft, Mangosaft, Aprikosensaft, Multivitaminsaft, Karottensaft, Maracujasaft, Traubensaft, Wasser mit oder ohne Kohlensäure, Milch mit oder ohne Kakaopulver. Jeder Stoff war mir recht. Schließlich war ich ganz unten angekommen: Ich trank Malzbier, am hellichten Tag, in aller Öffentlichkeit.
Den Ausstieg aus dem Ausstieg habe ich dennoch geschafft, ich bekam zum Glück Hilfe: von der Stadt Istanbul. Ich war dort im Urlaub, der Abend war lau, der türkische Raki war eisgekühlt und roch lecker, und die Idee, alte Gewohnheiten einfach abzulegen, schien mir auf einmal eine Überlegung wert zu sein – nach drei oder vier Gläsern Raki leuchtete sie mir dann vollkommen ein. Mittlerweile werde ich nur noch selten rückfällig und ertappe mich dann dabei, tagelang keinen Schluck Alkohol getrunken zu haben. In diesen Fällen hilft nur der schnelle Griff in den Kühlschrank, wo immer eine Flasche Martini auf Vorrat liegt. Und auf meinem Schreibtisch im Büro steht eine Flasche Pflaumenlikör – sicher ist sicher.