Über die neue Offensive gegen Gaddafi und den Zerfall des Regimes

Wer nicht desertiert, verliert

Der Aufstand in Libyen schien zu einem langwierigen Stellungskrieg zu werden. Doch Gaddafis Regime zerfällt, und die Rebellen haben eine Offensive begonnen.

Wenn Muammar al-Gaddafis Medienabteilung improvisiert, geht manchmal etwas schief. Am Sonntag wurden ausländische Journalisten in ein Krankenhaus in Tripolis zu einem verletzten Säugling geführt. Es handele sich um das Opfer eines Nato-Bombenangriffs, teilte man ihnen mit, doch ein Krankenhausmitarbeiter steckte einem Reporter einen Zettel zu: Das Baby sei bei einem Verkehrsunfall verletzt worden. Am Montag besichtigten die Journalisten eine Bombe, die angeblich in den Garten einer in einem Vorort von Tripolis lebenden Familie gefallen, aber nicht explodiert war. Die Bombe war allerdings mit kyrillischen Buchstaben beschriftet, stammte also offensichtlich nicht aus Nato-Beständen.
Das beweist zwar nicht, dass es bei den Nato-Bombardements keine zivilen Opfer gab. Doch die meisten Angriffe treffen den Großraum Tripolis, und trotz aller Bemühungen ist es den Repräsentanten des Regimes nicht gelungen, die Behauptung zu belegen, es seien 700 Zivilisten getötet worden. Die schlampige Vorbereitung der Pro­pagandatouren für Journalisten ist überdies ein weiterer Hinweis darauf, dass Gaddafis einst straff geführtes Regime zerfällt.

Der bislang letzte prominente Überläufer war der Ölminister Shukri Ghanem. Nach wochenlangen Spekulationen über seinen Verbleib tauchte er in der vorigen Woche in Rom auf und sagte, er wolle nun »für ein demokratisches Land« kämpfen. Obwohl Gaddafi sicherlich alles versucht, um sein Personal im Land zu halten, flohen auch acht Offiziere, unter ihnen fünf Generäle, über Tunesien nach Italien. »Tausende Mitglieder der Streitkräfte sind übergelaufen oder desertiert«, sagte General Melud Massoud Halassa. Das libysche Militär habe nur noch ein Fünftel seiner Kampfkraft.
Die Zahl der Überläufer und Deserteure ist nicht bekannt, und die Erfolgsmeldungen der Nato sind nicht überprüfbar. Offenbar sind die Rebellen jedoch auf dem Vormarsch, und ihre Kämpfer gehen inzwischen professioneller vor. Vermutlich koordinieren westliche Militärberater das Vorgehen, auch die Entscheidung der Nato, Kampfhubschrauber einzusetzen, spricht für eine neue Offensive.
Im lange umkämpften Misrata ist es Ende Mai gelungen, die Truppen Gaddafis so weit zurück­zudrängen, dass sie die Stadt nun nicht mehr mit Artillerie beschießen können. Die Rebellen verzichten mittlerweile auf die medienwirksamen, aber militärisch sinnlosen Scharmützel entlang der Küstenstraße und versuchen, die Hauptstadt Tripolis einzukreisen. Youssef Boudlal, ein Fotograf der Nachrichtenagentur Reuters, bestätigte am Montag, dass die Rebellen die 110 Kilometer südwestlich von Tripolis gelegene Stadt Yafran eingenommen haben: »Von Gaddafis Streitkräften ist nichts zu sehen.« Diese wurden nach Angaben der Rebellen auch aus vier Ortschaften im Westen, nahe der Grenze zu Tunesien, vertrieben.
Solche Erfolge sichern nicht nur den Nachschub aus dem westlichen Nachbarland und erleichtern Soldaten wie Zivilisten die Flucht. Sie widerlegen auch die von Gaddafis Regime und manchen Nahost-Experten verbreitete Behauptung, der Aufstand sei eine Angelegenheit ostlibyscher »Stammesführer« und Separatisten.

Beim Transitional National Council (TNC), der Überangsregierung der Rebellen in Bengasi, werden nun nicht mehr nur die üblichen Verdächtigen aus den Nato-Staaten vorstellig. Am Dienstag traf Michail Marelow ein, der Sondergesandte des russischen Präsidenten Dmitrij Medwedjew. Russland befürwortet offiziell weiterhin eine Verhandlungslösung. Doch Ende Mai hatte Medwedjew gefordert, Gaddafi müsse zurücktreten. Sein Gesandter werde allerdings auch versuchen, in Tripolis mit »Repräsentanten der früheren Führung« zu sprechen. Chinesische Diplomaten verhandelten mit Repräsentanten des TNC.
Russland und China hatten im UN-Sicherheitsrat einer Militärinterventon nicht zugestimmt. Doch man muss kein Freund der Demokratie sein, um zu erkennen, dass die Niederlage Gaddafis bevorsteht und es an der Zeit ist, mit den zukünftigen Siegern ins Gespräch zu kommen.