Die Debatte um den Ehec-Erreger in Deutschland

Bakterienjagd mit Haftbefehl

Bei der aufgeregten Debatte um den Ehec-Erreger vermischen sich gesundheits- und sicherheitspolitische Ziele auf bedenkliche Weise.

»Von überall her kommen Informationen: aus Hamburg, aus Niedersachsen, vom Robert-Koch-Institut, vom Bundesinstitut für Risikobewertung. Sie haben keine einheitliche Linie«, klagte die verbraucherpolitische Sprecherin der »Linken«, Karin Binder, am 8. Juni angesichts der Aufregung um das sogenannte Ehec-Bakterium. Das Robert-Koch-Institut (RKI) hatte am 26. Mai vor dem Verzehr von Gurken, Tomaten und Blattsalaten gewarnt, um die Ausbreitung von Ehec einzudämmen. Am 10. Juni wurde diese Warnung aufgehoben. Der Erreger wurde stattdessen auf Salatsprossen aus Ülzen in Niedersachsen nachgewiesen. Bis zum 10. Juni waren 28 Menschen an den Folgen der Durchfallerkrankung gestorben. Nach der ersten Warnung des RKI war die Nachfrage nach Gemüse stark zurückgegangen. Russland stoppte seine Importe. Der spanische Ministerpräsident José Luis Rodríguez Zapatero bezeichnete es als »eklatanten Fehler«, dass die deutschen Gesundheitsbehörden spanische Gurken als Träger des Bakteriums verdächtigt hatten. Inzwischen hat die EU der Agrarwirtschaft 210 Millionen Euro als Entschädigung für ökonomische Einbußen angeboten.

»Hier geht es zwar um einen potentiell lebensgefährlichen Erreger, doch ich warne vor Panikmache«, hatte Frank Ulrich Montgomery, mittlerweile Präsident der Bundesärztekammer, noch als deren Vizepräsident am 30. Mai der Passauer Neuen Presse gesagt. Jeder könne sich schützen, indem er sich streng an die Empfehlungen des RKI halte, häufig die Hände wasche und vorübergehend auf bestimmtes Gemüse verzichte. Die Diskussion über die Informationspolitik der Bundesregierung und über das Verhalten der Medien macht deutlich, wie sehr sich die Mehrheit der Bevölkerung abhängig von wissenschaftlichen und staatlichen Autoritäten wähnt. Nur wird nicht die Abhängigkeit vom Staat kritisiert, sondern lediglich das vermeintliche Fehlverhalten von dessen Institutionen. Dabei befinden sich diese selbst in einem Dilemma. Treten ihre Prognosen nicht ein oder stellen sich Warnungen als unbegründet heraus, gelten sie als Verursacher übertriebener Panik. Geschieht etwas Unvorhergesehenes, heißt es, sie hätten unzureichend informiert und womöglich Menschenleben auf dem Gewissen.
Forderungen nach einem härteren und effizienteren Durchgreifen des Staates sind in dieser Situation besonders populär. Karl Lauterbach, Gesundheitsexperte der SPD, schlug »für besonders gefährliche Keime eine mobile Eingreiftruppe« vor, und der Bundesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, wünschte sich gar den Umbau des RKI »zur zentralen Seuchenpolizei in Deutschland«. Gegenüber solchen Ideen, die mit der konkreten Ehec-Bedrohung kaum noch etwas zu tun haben, bemühte sich der neue Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) um souveräne Gelassenheit. »Das ist typisch deutsch: Es wird sofort wieder nach einer neuen Behörde, einer neuen Struktur gerufen«, kritisierte er am 8. Juni im »Morgenmagazin« der ARD die Forderungen nach einer neuen zentralen Bundesbehörde.
Dass der Ruf nach staatlicher Autorität mit der Gefahr von Seuchen legitimiert wird, ist historisch nichts Neues. Schon an den Ursprüngen moderner Staatlichkeit spielte die Beschäftigung mit bedrohlichen Krankheiten eine wichtige Rolle. Auf dem Titelbild des »Leviathan« von Thomas Hobbes aus dem Jahr 1651 stehen Ärzte und Soldaten außerhalb des Körpers des Souveräns, der sich aus den Körpern seiner Untertanen formiert. Das Militär und die Mediziner sind die Einzigen, die sich in der sonst menschenleeren Stadt, die sich vor dem herrschenden Riesen befindet, aufhalten. Kriege und Seuchen verkörpern somit Gefahren, die die staatliche Territorialität von außen bedrohen, und sind potentielle Anlässe für einen Ausnahmezustand.

Die Entwicklung moderner Souveränität ist auch eine Bedingung der Gesundheitspolitik, wie wir sie heute kennen. Mit der Sozialstaatsidee und den Kämpfen der Arbeiterbewegung des 19. und 20. Jahrhunderts wurde der Schutz des Staatsvolks vor Krankheiten und anderen Gefahren zur Aufgabe der staatlichen Institutionen. In Deutschland formierte sich Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Hygienewissenschaft eine medizinische Disziplin, die sich speziell mit Seuchenprophylaxe und Gesundheitsförderung beschäftigte. Ihr Ziel war die »Assanierung«, die Beseitigung gesundheitlicher Gefahren in den Städten, mit Hilfe von moderner Trinkwasserversorgung, Abfallbeseitigung, Abwasserreinigung und der Einrichtung von Krankenhäusern. Die althergebrachten Maßnahmen der »medizinischen Polizey«, beim Ausbruch von Epidemien ganze Stadtviertel abzuriegeln, wurden durch die Isolation der Patienten im Krankenhaus, durch Desinfektion und Impfungen abgelöst. Später ging die Hygienewissenschaft dazu über, auch die Unterschiede der Krankheitsanfälligkeit in der Bevölkerung zu erforschen. Nicht nur soziale und psychische Faktoren wurden in den Blick genommen, sondern auch die Vererbbarkeit bestimmter Dispositionen.
Zumindest bei der Frage der »Vererbbarkeit« bedrohlicher Krankheiten sind die Übergänge der »sozialen Hygiene« zur Eugenik fließend, und noch heute tauchen sozialeugenische Konzepte regelmäßig, wenn auch mitunter kaschiert, in gesundheitspolitischen Debatten auf. Wendts Forderung nach einer »Seuchenpolizei«, die Krankheiten als eine Art kriminelle Bedrohung bekämpft, ist nur das jüngste und drastischste Beispiel für diese Tendenz. Bereits seit den neunziger Jahren wird der staatliche Abbau gesundheitspolitischer Leistungen durch Kampfansagen wie die des rechten Publizisten Rainer Zitelmann ­gegen die »Vollkasko-Gesellschaft« sekundiert. Gleichzeitig wird die Gesundheit der Arbeitskräfte von Seiten der Unternehmen immer stärker kontrolliert, Firmen wie Daimler verlangen bereits Blutproben von ihren Bewerbern.
Die Reaktionen auf die Gefahren des Ehec-Bakteriums zeigen, wie wenig sich die Bevölkerung solcher sozialen Implikationen gesundheitspolitischer Maßnahmen bewusst ist. Vorherrschend sind stattdessen Ohnmacht und Reflexionslosigkeit. Appelle wie die, sich täglich mindestens zweimal die Zähne zu putzen oder sich vorm Essen die Hände zu waschen, werden weder der realen gesundheitlichen Bedrohung noch den mit ihrer Bekämpfung verbundenen politischen Gefahren gerecht. Der Kieler Soziologe Wolf R. Dombrowsky, stellvertretender Vorsitzender der beim Bundesministerium des Inneren angesiedelten Katastrophenschutzkommission, verlieh schon 2003 seiner Besorgnis darüber Ausdruck, dass ein angemessenes gesundheitliches »Krisenmanagement« durch »Irrationalitäten und Hysterisierbarkeit« der Menschen verhindert zu werden drohe.

Auch die Ärzte selbst sehen sich durch die Diskussion um Ehec überfordert, die einen Ansturm verängstigter Patienten auf ihre Praxen ausgelöst hat. Aber dagegen könne mit dem Appell an die Eigenverantwortung etwas getan werden, beruhigt Matthias Wallenfels von der Ärztezeitung die Berufskollegen. Praxischefs könnten sich »ohne Zweifel wappnen für einen Ansturm Ehec-besorgter Patienten. Und zwar, indem sie gut sichtbar in der Praxis, etwa am Tresen und im Wartezimmer, vor allem über die sinnvollen Prophylaxe-Maßnahmen informieren und ihre Patienten auffordern, dies auch aktiv zu tun. Des Weiteren können sie sie ermuntern, Essens-Tagebücher zu führen.« Ob solche Maßnahmen die Rufe nach »mobilen Eingreiftruppen« und »Seuchenpolizisten« verstummen lassen, kann allerdings bezweifelt werden.