Über die Arbeitsbedingungen in deutschen AKW

Die Katastrophe wandert mit

Die Diskussion über den Einsatz prekär beschäftigter »Atomnomaden« hat den Blick erstmals auf die konkreten Arbeitsbedingungen in den deutschen Atomkraftwerken gelenkt.

Aufhorchen ließ vor kurzem die Meldung über den Tod eines Leiharbeiters bei den Arbeiten am havarierten AKW in Fukushima. Plötzlich trat ins öffentliche Bewusstsein, was eigentlich auch schon vor der japanischen Atomkatastrophe kein streng gehütetes Geheimnis war: die Tatsache, dass die schwersten und gefährlichsten Arbeiten in den nuklearen Anlagen durchaus nicht nur in Japan von relativ schlecht bezahlten und sozial wenig abgesicherten Leiharbeitern verrichtet werden, die oft gezwungen sind, entsprechend den Wartungsphasen der AKW von Ort zu Ort zu ziehen. In Frankreich, wo mehr als 30 000 dieser prekär Beschäftigten im Einsatz sind, werden sie »Atomnomaden« genannt. Die französiche Schriftstellerin Elisabeth Filhol stellte deren Geschichte und Lebensbedingungen in den Mittelpunkt ihres Romans »Der Reaktor«, der – noch vor der Katastrophe in Fukushima veröffentlicht – für Aufsehen sorgte, weil er die bedrohliche Seite der bislang von nur wenigen Franzosen kritisierten Atomindustrie zum Thema machte.
Auch der Journalist Hans Woller recherchierte für den Deutschlandfunk über die Situation der Leiharbeiter in den AKW. Immer wenn ein Reaktor heruntergefahren wird, um die Brennstäbe auszuwechseln, reisen Leiharbeiter zu Hunderten aus allen Teilen Frankreichs an und campieren zwischen ihren Schichten wochen- oder monatelang in Wohnwagen oder sogar in ihren Autos in der Nähe der Atomanlage. Woller kommt zu dem Ergebnis: »Pro Jahr legen sie zwischen 40 000 und 70 000 Kilometer für ihre Arbeit zurück und verdienen dabei selbst nach 20 Jahren nicht mehr als 1 400 Euro im Monat. Sie arbeiten unter immer stärkerem Zeitdruck. Früher blieb ein Reaktor für das Wechseln der Brennstäbe zwei Monate abgeschaltet, heute nur noch vier Wochen. Dazu kommt: Ständig schwebt das Damoklesschwert der zu hohen Strahlendosis über den Nuklearnomaden. Wer die Maximaldosis von 20 000 Millisievert erreicht hat, verliert für immer seinen Job.«

Die Atomindustrie in Frankreich ist fest in der Hand des staatlichen Energiekonzerns EDF, aber nennenswerte positive Auswirkungen auf die Arbeitsverhältnisse hat dies nicht. Der Zeitarbeiter Yvon Laurent wird von Woller mit den Worten zitiert: »Der Stromkonzern EDF gibt diese Wartungsarbeiten an Subfirmen ab, um sich aus der Verantwortung zu stehlen. Gibt es ein Problem, sagt EDF: Das waren nicht wir, sondern die Subfirma. Und in Sachen Gesundheit ist es dasselbe. Sie können sagen: Krebserkrankungen betreffen uns nicht, es sind ja nicht unsere Angestellten.« Gerade die gefährlichsten Arbeiten werden also von Zeitarbeitern übernommen. Wie Focus schon am 14. April meldete, sind nach Berechnungen des Französischen Instituts für Gesundheit und medizinische Forschung (INSERM) Leiharbeiter in französischen Atomkraftwerken bis zu 80 Prozent der dort herrschenden Strahlung ausgesetzt. Ein Streik in der französichen Atomindustrie für die Festanstellung der »Atomnomaden« bei der EDF vor zwei Jahren blieb erfolglos.
Die Frage liegt nahe, ob die Lage in den 17 deutschen AKW ähnlich aussieht. Wie mittlerweile deutlich wird, gibt es tatsächlich erschreckende Parallelen. Nach Recherchen der Bundestagsfraktion der »Linken« verfügen dem letzten Bericht des Strahlenschutzregisters aus dem Jahr 2008 zufolge etwa 67 000 Menschen mit gültigem Strahlenpass über die Berechtigung, als sogenanntes Fremdpersonal in den Kontrollbereichen von Atomanlagen zu arbeiten, wo sie Reinigungs-, Handwerks-, Montage- wie auch hochspezialisierte Tätigkeiten verrichten.
Und tatsächlich stellen Beschäftigte von Fremdfirmen einen hohen Anteil der in den AKW Arbeitenden. Angaben der Bundesregierung vom 6. Juni zufolge werden in den 17 deutschen AKW – inklusive den momentan abgeschalteten – zurzeit 24 346 Leiharbeiter beschäftigt, denen gerade einmal 5 298 Festangestellte gegenüberstehen. In den zehn Forschungsreaktoren ist das Verhältnis ein wenig ausgeglichener. Hier arbeiten 1 058 Festangestellte und 1 485 Angehörige von Fremdfirmen. Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Atomanlagen auch in Deutschland überwiegend von Menschen mit schlechter Bezahlung und ungesicherten Beschäftigungsverhältnissen in Gang gehalten werden, die zum Teil hochspezialisiert sind, aber dennoch im Hinblick auf ihre berufliche Existenz in ständiger Unsicherheit leben – nicht gerade eine ideale Konstellation für einen Hochrisikobereich. Die Leiharbeiter tauschen Brennelemente aus, reparieren Rohre in Zonen, die starker Strahlung ausgesetzt sind, und reinigen Abklingbecken. Nach Angaben von Siemens waren die Hilfskräfte auch beim Austausch sogenannter Steuerstabantriebe beteiligt, mit denen im Notfall die Atomkraftwerke abgeschaltet werden sollen.

Die »Fremdarbeitskräfte« kommen insbesondere dann zum Einsatz, wenn die Atomkraftwerke – in der Regel einmal jährlich – zur Revision heruntergefahren werden. Für die dann anfallende Arbeit ziehen Konzerne wie Eon, RWE oder EnBW Spezialisten der Herstellerfirmen, Handwerker, aber auch Hilfskräfte heran. Mit Ausnahme der Spezialisten von den Herstellerfirmen ist ein Großteil dieser Arbeiter über Zeitarbeitsfirmen beschäftigt, die auf die Atomindustrie spezialisiert sind. Wie die Stuttgarter Zeitung am 6. Juni berichtete, arbeiten beim Energiekonzern EnBW zusätzlich zu der 800 Personen zählenden Stammbelegschaft in Revisionsphasen pro AKW-Standort noch etwa 2 800 Arbeitskräfte, die nicht zu EnBW gehören. Wie in Frankreich wurden in Deutschland in den vergangenen Jahren die Revisionsphasen deutlich verkürzt, um die Ausfallzeiten zu reduzieren und die Kosten zu senken. So wurde im Atomkraftwerk Neckarwestheim II die Revisionszeit innerhalb von fünf Jahren von 33 Tagen auf 17 Tage reduziert. Infolgedessen werden die Revisionen wesentlich oberflächlicher durchgeführt, was langfristig die Gefahr von Reaktorunfällen erhöht und dazu beiträgt, dass die verantwortlichen Leiharbeiter unter immer größerem Druck arbeiten.
Der Wochenzeitung Freitag zufolge werden Werkvertrags- oder Leiharbeitsbeschäftigte auch in Deutschland systematisch für Tätigkeiten mit höherer Strahlenbelastung eingesetzt. Sie verdienen, wie ihre Kollegen in Frankreich, nach den gültigen Leiharbeitstarifen deutlich weniger als Stammbeschäftigte. Nach einem Bericht des Otto-Hug-Strahleninstituts in München lag die Strahlendosis der »Fremdbeschäftigten« zwischen 1980 und 1996 durchschnittlich 70 Prozent über der des Stammpersonals. Wenn die Werk- und Leiharbeitsbeschäftigten der maximal erlaubten Strahlendosis ausgesetzt worden sind, wird gegen sie ein Beschäftigungsverbot verhängt. Sie werden dann gegen andere Beschäftigte ausgetauscht. Wie die Bundesregierung auf Anfrage der Linksfraktion im Bundestag am 6. Juni mitteilte, bekamen im Jahr 2009 die »Fremdbeschäftigten« 88,3 Prozent der Strahlendosen ab, Stammbeschäftigte nur 11,7 Prozent, wobei die Strahlenbelastung für Fremdpersonal pro Person im Durchschnitt fast doppelt so hoch war wie die für das festangestellte Stammpersonal. Die Strahlendosis, welcher die Leiharbeiter ausgesetzt sind, ist seit 1980 kontinuierlich gestiegen, was nahelegt, dass die Kraftwerksbetreiber auch hierzulande in zunehmendem Maße gefährliche und strahlungsintensive Tätigkeiten von diesem »Strahlenproletariat« ausführen lassen.
Zusätzlich erhöht wird die Strahlungsgefährdung für die Leiharbeiter durch die Tatsache, dass vor allem hochspezialisierte Arbeiter ohne Festanstellung gezwungen sind, den Revisionsphasen der AKW hinterherzuziehen, um genügend Jobs zur Deckung ihres Lebensunterhalts zu haben. Je mehr Aufträge angenommen werden, desto höher sei für sie der Verdienst, so die energiepolitische Sprecherin der »Linken«, Dorothée Menzner. Damit erhöhe sich aber auch die Strahlungsbelastung des Einzelnen. Viele der Leiharbeiter sind sogar europaweit im Einsatz. Niemand kann ausschließen, dass Arbeiter, die in einem europäischen Land die Strahlungshöchstgrenze erreicht haben und deshalb ihren Job verlieren, in ein anderes Land wechseln, um dort weiterzuarbeiten. Da es keine einheitliche europäische Regelung zum Strahlenschutz gibt, besteht die Gefahr, dass viele dieser »Atomnomaden« einer auf Dauer tödlichen Strahlung ausgesetzt werden.

Ungesicherte Beschäftigungsverhältnisse und Billiglöhne sind in der Atomindustrie weltweit gang und gäbe, ob in Japan, Frankreich oder Deutschland. Die oft miserablen Arbeitsbedingungen und die erhöhte Gesundheitsgefährdung der »Atomnomaden« sind eine der zahlreichen Schattenseiten einer Industrie, die ihre möglicherweise tödlichen Konsequenzen immer schon ins ökonomische Kalkül einbezieht. Ob sich die Lage der Beschäftigten durch den nun beschlossenen Atomausstieg 2022 verbessert, darf bezweifelt werden. Denn wenn es tatsächlich dabei bleibt, werden die Atomkonzerne in den verbleibenden elf Jahren aus ihren Anlagen den größtmöglichen Profit herauspressen. Dies vermutet auch Henrik Paulitz von der Deutschen Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) in einem Interview mit dem Greenpeace-Magazin vom 7. Juni: »Wir haben den Eindruck, dass schon in der Vergangenheit erfahrenes Personal durch Leiharbeiter ersetzt wurde. An dieser Personalpolitik wird sich wohl nichts ändern, denn der Kostendruck wird angesichts der fehlenden Zukunftsaussichten noch weiter zunehmen. Das heißt, dass in Zukunft vermutlich noch mehr geschlampt wird.«