Über die Grünen und den Ausstieg aus der Atomenergie

Das wird keine Liebesheirat

Vor der Entscheidung über den Ausstieg aus der Atomenergie mehren sich die Spekulationen über künftige schwarz-grüne Bündnisse.

Die Aufregung unter den Grünen vor ihrer außerordentlichen Bundesdelegiertenversammlung am kommenden Samstag in Berlin ist wieder einmal groß. Gestritten wird vordergründig darüber, ob die Partei dem schwarz-gelben Plan für den Atomausstieg im Bundestag zustimmen soll. Manche fürchten schon die Wiederauferstehung des alten Fundi-Realo-Streits. Dabei geht es bei der gegenwärtigen Debatte weder um die Spaltung des Atoms noch der Partei, sondern nur um schnöde Strategie und Taktik.
»Bei der Diskussion, ob wir den Ausstiegsplänen und den Energiegesetzen der Regierung zustimmen werden, geht es uns einzig um die Frage, ob wir damit tatsächlich und endgültig den Ausstieg aus der Atomenergie schaffen können«, versichert die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth. Das ist stark geflunkert. Schließlich weiß auch Roth, dass der Ausstieg aus der Atomenergie nicht davon abhängt, ob nun auch noch die Grünen ihre Hand für die Vorlage der schwarz-gelben Regierung heben. Dank der angekündigten Unterstützung der SPD kann diese so oder so mit einer satten Zweidrittelmehrheit im Parlament rechnen. »Für uns Grüne ist der breite Konsens möglichst aller politischen Parteien im Bundestag für den Ausstieg aus der Hochrisikotechnologie Atom ein Wert an sich«, heißt es im Leitantrag des Bundesvorstands. So kann man sich den Weiterbetrieb der deutschen AKW bis zum Jahr 2022 auch schönfabulieren. Ohnehin sind es andere Gründe, die die grüne Parteiführung für eine Zustimmung votieren lassen. Es geht um Profil- und Koalitionsfragen – auch wenn darüber in der Berliner Parteizentrale derzeit nicht gerne gesprochen wird. Sie will ein Signal in Richtung Union senden, ohne die eigene Anhängerschaft zu verschrecken.

Entsprechend verstimmt reagierte die Spitze der Bundespartei auf ein Interview Winfried Kretschmanns, in dem der baden-württembergische Ministerpräsident offen aussprach, was sie nur im stillen Kämmerlein diskutiert sehen will. Der Kurswechsel Merkels in der Atompolitik verdiene »großen Respekt«, lobte Kretschmann im Berliner Tagesspiegel die christdemokratische Kanzlerin. Denn damit sei ein wesentliches Hindernis für Schwarz-Grün im Bund beseitigt worden. »Die Verlängerung der Laufzeiten hat unüberbrückbare Gräben aufgerissen, die werden nun wieder eingeebnet«, zeigte sich der 63jährige erfreut. Auf dem Sonderparteitag werde er »für ein kraftvolles Ja« zu Merkels Novelle des Atomgesetzes werben. »Im Fall einer Ablehnung schaden wir unserer Mehrheitsfähigkeit, dann bremsen wir uns selbst aus auf dem Weg hin zur führenden politischen Kraft in Deutschland«, sagte Kretschmann. Mit einem solchen »Akt der Selbstbeschränkung« würden sich die Grünen »im Oppositionsgestus einmauern«.
Was man dem »Moses aus Sigmaringen« (Die Zeit) auch immer vorwerfen kann: Immerhin versucht er nicht, seine Absichten im Unklaren zu lassen. Seit rund zwei Jahrzehnten kämpft der frühere Maoist nun bereits dafür, seine Partei auch für Bündnisse mit der Union zu öffnen. In den neunziger Jahren warf ihm der damalige grüne Bundesvorsitzende Ludger Volmer deshalb noch vor, er gefährde »in hohem Maße« die Identität der Partei. Kretschmanns Werben für Schwarz-Grün liefe »maximal auf eine Zersetzung der eigenen Partei« hinaus, warnte Volmer.
Solche Töne würden Volmers Nachfolger heutzutage nicht mehr anschlagen. Zumal sie längst ähnlich pragmatisch denken wie Kretschmann: Ob Rot-Grün oder Schwarz-Grün – es wird genommen, was zu bekommen ist. Allerdings will die Berliner Parteiführung tunlichst den Eindruck vermeiden, ihr Werben für Merkels Atomausstiegsgesetz könnte rein bündnispolitisch motiviert sein. Es gehe beim Thema Atom »nicht um Parteitaktik oder irgendwelche strategischen Aufstellungen, und schon gar nicht um mögliche schwarz-grüne Optionen«, beteuert Roth. Und Bundesgeschäftsführerin Steffi Lemke sekundiert: »Koalitionsdebatten helfen bei der Bewertung der schwarz-gelben Gesetzentwürfe zum Atomausstieg im Moment nicht weiter.«

In der eigenen Wählerschaft stoßen schwarz-grüne Gedankenspiele immer noch auf emotionale Widerstände. Nach einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstitut TNS-Emnid können sich nur 33 Prozent der Grünen-Anhänger mit Schwarz-Grün anfreunden, 64 Prozent lehnen eine solche Verbindung ab. Auch viele an der grünen Basis bleiben weiterhin eisern auf das Bündnis mit der SPD fixiert. So spricht sich nicht nur der Bundesvorstand der Grünen Jugend gegen eine Unterstützung der schwarz-gelben Regierungslinie aus. »Angela Merkel will mit ihrem Atomausstieg nach der SPD und der FDP nun auch noch die Grünen kaputtmachen«, warnt der Gelsenkirchener Grüne Robert Zion. Der Parteitag dürfe Merkels Atompolitik kein grünes Gütesiegel geben und ihr damit den Weg für schwarz-grüne Koalitionen freimachen. Gemeinsam mit mehr als 100 Gesinnungsgenossen will Zion deshalb auf dem Parteitag am Samstag eine »Globalalternative« zum Leitantrag des Bundesvorstandes zur Abstimmung stellen. »Merkels ›Irrtumskorrekturgesetz‹ mit einer Rückkehr zum Zustand vor der Laufzeitverlängerung bleibt weiter hinter den gesellschaftlichen Anforderungen zurück«, heißt es darin. Deswegen sei es nur mit umfangreichen Nachbesserungen zustimmungsfähig.
Das ist zwar nicht unbedingt falsch. Aber dass Zion diesmal ein ähnlicher Coup gelingen wird wie auf dem Göttinger Parteitag zur Afghanistan-Politik 2007, als der damals noch weithin unbekannte Parteilinke beinahe im Alleingang die grüne Nomenklatura das Fürchten lehrte, ist dennoch nicht sehr wahrscheinlich. Es wäre auch in der Sache widersinnig: Merkels »Atomausstieg« ist schließlich nicht schlechter als Gerhard Schröders »Atomkonsens«. Wer einst den miesen rot-grünen Deal mit der Atomindustrie absegnete, kann jetzt nur schwerlich gegen die schwarz-gelben Pläne stimmen. Immerhin soll nun bereits 2022 der letzte Meiler abgeschaltet werden – nach den einst von SPD und Grünen vereinbarten Regelungen hätten die Energiekonzerne den Ausstieg noch bis zum Jahr 2026 hinausschieben können. Und ein Argument, warum unter Rot-Grün das Restrisiko geringer gewesen sein soll als unter Schwarz-Gelb, findet sich im Gegenantrag der Parteilinken und Basisgrünen auch nicht. Den sofortigen Ausstieg fordert ohnehin niemand mehr in der Partei.
Das Ganze ist ein aussichtsloses Rückzugsgefecht. Ob die Grünen nun zustimmen oder nicht: Kretschmann hat recht mit seiner Feststellung, dass Merkel mit ihrer Kehrtwende in der Atompolitik das entscheidende Hindernis für Schwarz-Grün auf Bundesebene aus dem Weg geräumt hat. Solange die Union an ihrem Pro-Atom-Kurs festhielt, konnte auch die geneigteste Grünen-Führung nicht mit ihr koalieren. Denn ihre Ablehnung der Atomkraft ist das einzige Identitätsmerkmal, das den Grünen aus ihren Gründungszeiten noch geblieben ist. Das Thema ist nun erledigt. In einer gemeinsamen Regierung mit der SPD würden die Grünen schließlich auch keinen früheren Atomausstieg durchsetzen können. Alles andere ist verhandelbar.

Warum sollte die Partei bei ihrer Partnerwahl auch weniger flexibel sein als die SPD? Zahlreiche unüberwindlich scheinende Hürden für eine Zusammenarbeit mit der Union haben die einstigen Ökopaxe längst beiseite geräumt, indem sie während ihrer Regierungszeit mit den Sozialdemokraten ihre Skrupel gegenüber deutschen Kriegsbeteiligungen, sozialem Kahlschlag und dem Abbau von Bürgerrechten überwanden. Wer Schröder, Clement und Scharping überlebt hat, hält es auch mit Merkel, Schäuble und de Maizière aus.
Nun wollen »Realpolitiker« wie Kretschmann oder der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer den Grünen die letzten Flausen austreiben. Um andere Wählermilieus erreichen zu können, müsste die Partei ihre Programmatik und ihren Auftritt verändern, forderte Palmer in einem internen Thesenpapier. »Radikales Oppositionsgehabe und Fokussierung auf klassisch grüne Themen bindet die Kernwählerschaft, verschreckt aber Neugrüne«, schreibt er darin. »Und wenn man nachts in den Innenstädten nicht mehr schlafen kann, muss eine breit im Bürgertum verankerte Partei auch Alkoholverbote und polizeiliche Repression gegen Widerstand in den eigenen Reihen vertreten.« Auch Kretschmann fordert von den Grünen ein Bekenntnis zu mehr law and order. »Für innere Sicherheit fühlen sich andere Parteien zuständig, wir übernehmen die Gegenposition und verteidigen die Bürgerrechte gegen die innere Sicherheit«, kritisiert er. »Wer politisch führen will, muss sich selbst um innere Sicherheit kümmern und sie verantworten.« Was spräche da noch gegen eine Koalition mit der Union?
»Schwarz-Grün wäre der Handschlag der politischen Erben von Kurt Georg Kiesinger und von Rudi Dutschke, eine Art späte Familienzusammenführung nach dem Generations-Riss, der seit 1968 die bundesdeutschen Eliten durchzog«, schwärmt bereits Stefan Reinicke in der Taz. Dutschke dreht sich wohl im Grab um. Aber noch ist es nicht soweit – und ob es überhaupt in absehbarer Zeit auf Bundesebene zu einer schwarz-grünen Koalition kommen wird, ist keineswegs ausgemacht. Je mehr über Schwarz-Grün geredet wird, desto heftiger werden die Abwehrreaktionen. »Koalitionsgedankenspielchen sind derzeit so unnütz wie ein Kropf«, warnte denn auch CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe in der Frankfurter Rundschau. Auch er weiß, dass aufgrund der Mentalität der christdemokratischen wie der grünen Anhängerschaft Schwarz-Grün eine auf beiden Seiten nur schwer zu vermittelnde Option ist. So bleibt Rot-Grün weiterhin die wahrscheinlichste Variante nach der Bundestagwahl 2013. Falls es denn rechnerisch reichen sollte. Selbst für die konservativen Grünen in Baden-Württemberg kam nach der Landtagswahl Ende März nichts anderes in Frage. Falls es jedoch nicht für SPD und Grüne alleine reichen sollte? So sehr grüne und christdemokratische Politiker um rhetorische Distanz bemüht sind – ausschließen wollen sie nichts.