Mehmet Çagçag im Gespräch über die Wahlen in der Türkei und die Außenpolitik der AKP

»Größenwahnsinnig und unglaublich schnell beleidigt«

Nach seiner Wiederwahl als türkischer Ministerpräsident zeigte sich Recep Tayyip Erdogan in der vorigen Woche gnädig: Er zog sämtliche Verleumdungsklagen zurück, die er im Wahlkampf gegen Journalisten erhoben hatte. Kritische Publizisten mit Klagen einzuschüchtern, ist eine Strategie, die die Regierungspartei AKP systematisch anwendet. Mehmet Çagçag ist Comic­zeichner und Karikaturist für verschiedene türkische Zeitungen und Magazine. Er wurde bereits zweimal von Erdogan verklagt. Mit der Jungle World sprach er über Erdogans Wahlsieg, die mangelnde Pressefreiheit in der Türkei und die Außenpolitik der AKP.

Erdogan hat die Wahlen mit deutlicher Mehrheit gewonnen. Ist das tatsächlich ein so großer Erfolg, wie die AKP es darstellt?
Ja und nein. Kein Ministerpräsident hat es bislang geschafft, drei Regierungsperioden zu überdauern. Aber das liegt nicht so sehr am persönlichen Erfolg von Erdogan, sondern an einem Vakuum, das zu Beginn seiner Amtszeit 2003 existierte. Es fehlten innovative Parteien und charismatische Politiker. Die politischen Größen der Ära nach dem Militärputsch hatten sich überlebt oder diskreditiert.
Eine Zeitlang war die AKP als konservative Partei fortschrittlicher als die sich eher sozialdemokratisch oder links bezeichnenden Parteien wie etwa die Republikanische Volkspartei (CHP). Sie war für die EU, für eine Demilitarisierung der Türkei, für eine Abschaffung der Putsch-Verfassung, sogar für Frauenrechte. Die beiden starken Oppositionsparteien, die CHP und die rechtsex­treme MHP, sehen das Militär immer noch als segensreiche Einrichtung zur Verhinderung eines fundamentalistischen Umsturzes. Die CHP beginnt gerade, diese Sicht zu verändern. Das ist sehr wichtig, kommt aber viel zu spät. Trotz seines bisherigen Erfolgs ist Erdogan als Person aber auch noch nie so kritisiert worden wie in diesem Wahlkampf.
Worauf zielte die Kritik?
Auf die großen Gesten und Inszenierungen mit ihren vielen falschen Tönen. Erdogan präsentiert sich gern als Mann des Volkes. Aber leutselig ist er nur unter winkenden, jubelnden Anhängern. Demonstrierende Studenten werden verprügelt. Es gab noch nie so viele inhaftierte Journalisten wie heute. Ich empfinde die gesamte politische Stimmung ähnlich erdrückend wie in der Ära nach dem Putsch, gerade was den Journalismus betrifft. Noch schlimmer als die direkte Zensur ist die Schere, die die meisten Kollegen im Kopf haben. Viele Dinge sind ihnen bekannt, werden aber nicht publiziert.
Welche Themen werden ausgespart?
Die generelle Kritik an der Regierung und an ihrem Führungsstil, die Umgehung von öffentlichen Ausschreibungen, das Begünstigen von der AKP nahestehenden Firmen, die Manipulation der Medien.
Gibt es diese Missstände nicht schon länger?
Ja, aber es gab immer auch Kontrollmechanismen des Systems, wie etwa das Militär und die Staatsbürokratie. Nicht dass diese Institutionen viel mit der Demokratie am Hut gehabt hätten – aber ich sehe momentan wieder ein Vakuum, das die AKP nicht ausfüllen kann und auch nicht ausfüllen sollte.
In welcher Lage befinden sich die anderen politischen Parteien nach der Wahl?
Da besteht wüste Ödnis. Es gibt immer noch keine politische Innovation, bei der Opposition leider auch nicht. Die CHP hat einen neuen Kandidaten aufgestellt, von dem man sagen kann, er hat sich bemüht. Aber das reicht angesichts der vielen wichtigen Fragen nicht aus. Es steht jetzt die Verfassungsänderung an, das wird ein langwieriges Tauziehen, fürchte ich.
Sie zeichnen bei der Tageszeitung Habertürk die tägliche Kolumne »One Minute«. Warum heißt sie so?
Eine Sternstunde für die türkische Satire war Erdogans Auftritt 2009 auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos, eigentlich eine fürchterliche Veranstaltung der Globalisierungs-Kommödianten. Dort stand Erdogan mit erhobenem Zeigefinger auf und forderte immer wieder in diesem putzigen Englisch mehr Redezeit: »One minute! One minute!« Das fanden wir alle fürchterlich peinlich, aber gleichzeitig auch irgendwie unglaublich. Das Problem ist, dass Erdogan sich selbst einen Stil zubilligt, den er bei anderen niemals dulden würde. Das ist das Problem autoritärer Menschen. Sie sind größenwahnsinnig und unglaublich schnell beleidigt.
Damit haben Sie ja persönlich Erfahrungen gemacht.
Ja, ich wäre einmal beinahe zu einer Geldstrafe verurteilt worden, vor zwei Jahren ist es mir dann tatsächlich passiert.
Worum ging es in den beiden Fällen?
Ich hatte einen Titel für die Satirezeitschrift LeMan gestaltet. Auf der ersten Seite ist immer eine Karikatur mit einem aktuellen Bezug. Ich hatte Erdogan als Zecke gezeichnet, die am Hals des türkischen Bürgers hängt. Es ging thematisch um die hohen Steuern, die Preissteigerungen und die schlechten Arbeitsbedingungen. Die Zecke hatte ich als Bild gewählt, weil es in dem Sommer eine Zeckenepidemie in der Türkei mit Todesopfern gab.
Das fand Erdogan gar nicht komisch, auch weil er ein Problem damit hat, wenn er als Tier dargestellt wird. Aber die Beleidigungsklage hat er nicht durchbekommen. Es gab im Vorfeld eine allgemeine Auseinandersetzung, der Kollege Musa Kart hat Erdogan einmal als Katze gezeichnet. Und die Zeitschrift Penguen hat aus Solidarität mit Kart, der auch verklagt wurde, ein ganzes Titelblatt voller Erdogan-Tierfiguren veröffentlicht. Das Gericht entschied, das sei künstlerische Freiheit.
Und weshalb sind Sie dann verurteilt worden?
Ich habe 2008 einen LeMan-Titel gestaltet. Ein Leser hatte mir ein Foto geschickt, auf dem Erdogan an der Wahlurne zu sehen ist. Wir haben ja ein fortschrittliches Wahlsystem, bei dem man nach der Wahl mit einem Rotstift markiert wird, so dass man nicht zweimal wählen gehen kann. Erdogan hatte also gewählt, zeigte den Mittelfinder der rechten Hand mit der roten Farbe und grinste in die Kamera. Es sah aus, als zeige er einen Stinke­finger. Zu der Zeit hatte er auch wieder einen seiner unvergleichlichen Kalauer losgelassen: »Wir Türken haben nicht die Wissenschaft und Zivilisiertheit aus dem Westen übernommen, sondern seine Unmoral.« Ich habe ihn auf dem Titel zitiert und das Foto mit dem Stinkefinger dazumontiert, die rote Farbe habe ich wegretouchiert. Das war der Grund für meine Verurteilung. Das Gericht befand, ich hätte durch die Retouche des Bildes die Wirklichkeit verfälscht und den Ministerpräsidenten verunglimpft.
Hatte das Auswirkungen auf Ihre Gestaltungsfreiheit als Zeichner?
Ich zeichne immer noch »One Minute« und Erdogan.
Wie sehen Sie die Außenpolitik der AKP?
Sie ist populistisch wie die ganze Politik. Erdogan tut so, als habe er die arabischen Nachbarn neu entdeckt. Die Türkei ist seit Jahrzehnten ein stabiler Nachbar für die arabische Welt. Die Entspannung mit Syrien setzte vor seiner Amtszeit ein. Den Europa-Kurs schrieb er sich in der Zeit auf die Fahnen, als er selbst aus politischen Gründen ins Gefängnis musste. Aber der Anlass für die Karikatur, die ich eben beschrieben habe, ist ein tiefsitzendes kulturelles Vorurteil gegenüber dem Westen.
Erdogan war bislang doch nicht nur mit Assad, sondern auch mit Berlusconi sehr gut befreundet.
Ja, das ist auch der Politiker, der ihm am ähnlichsten ist, mit ganz viel Pathos in allen Posen und der Manipulation der öffentlichen Meinung durch die eigenen, protegierten Medien. Nur dass die Medienlandschaft in der Türkei sehr viel heterogener ist als in Italien. Die Türken interessieren sich neben der Unterhaltung auch sehr für die Tagespolitik. Die Abendnachrichten dauern bei uns manchmal eine Stunde und die Fernsehsender achten auf eine zeitversetzte Ausstrahlung, damit viele Leute zwei oder drei Nachrichtensendungen sehen können. Die Medien sind unter Druck, aber nicht unter alleiniger Kontrolle der Regierung. Das geht bei uns auch nicht. Das erstaunt mich immer an Italien. Wir hätten hier im Falle des Versuchs einer totalen Kontrolle sicher Massendemonstrationen.
Angesichts der schon bestehenden und weiterhin geplanten Kontrolle des Internet war die Reaktion aber recht zahm.
Es gab eine Großdemonstration auf dem Taksim-Platz. Und nun warten wir ab, was passiert. Am 22. August soll ein Filtersystem eingeführt werden, begründet wird dies mit einer Kampagne gegen Kinderpornographie und Pornographie allgemein. Aber wie wird das aussehen und wer entscheidet? Es gibt immer wieder ganz absurde Begründungen für Zensur. Es wurde auch schon die Kinderserie »Winnie Puh, der Bär« zensiert, weil es da Ferkel als Charaktere gibt. Ich erzählte das einem Freund aus Amerika, der lachte und sagte, in der amerikanischen Sesamstraße dürfe das Krümelmonster keine Kekse mehr essen, sondern nur noch Obst und Gemüse, um nicht jugendgefährdend zu sein. Wir müssen uns die Praxis anschauen. Wenn passiert, was wir befürchten – dass künftig mit der Begründung der Pornographie willkürlich Seiten gesperrt werden –, sind wir wieder alle auf dem Taksim-Platz.