Über den Man-Made River in Libyen

Nach mir die Trockenzeit

Als achtes Weltwunder rühmte die Propaganda Muammar al-Gaddafis den Man-Made River zur Versorgung der libyschen Küstenstädte mit Wasser. Das Abpumpen der Wasserreservoirs unter dem Wüstenboden wirft jedoch Probleme auf.

»Es gibt keine Freiheit des Menschen, wenn ein anderer die Kontrolle über seine Bedürfnisse hat.« Dieser Satz stammt aus dem zweiten Kapitel von Muammar al-Gaddafis programmatischem Werk »Das Grüne Buch«. Nach seinem Putsch im Jahr 1969 war Gaddafi zunächst recht populär, denn unter der zuvor herrschenden Monarchie waren praktische keine Entwicklungsprojekte verwirklicht worden. Man hoffte, das neue Regime werde mehr tun.
Das größte wirtschaftliche Projekt Gaddafis betraf die Wasserversorgung. Das Wasser, das in den Städten an der libyschen Küste als Trinkwasser aus den wenigen Hähnen kam, die es gab, war versalzen und deshalb ungesund. Trinkwasser, das nicht krank machte, war für die wenigen Privilegierten des Landes reserviert und ansonsten sehr teuer. Dass sauberes Trinkwasser zum grundlegendsten Bedarf des Menschen zählt, war dem in der Wüste aufgewachsenen Gaddafi wohl bewusst, während dies in den entwickelten Ländern des Westens bis heute nicht überall verstanden wird.
Auch wenn sich das langsam ändert, wovon zum Beispiel das Referendum gegen die Privatisierung der Wasserversorgung in Italien und viele Reaktionen nach der Atomkatastrophe in Fukushima hinsichtlich des verstrahlten Trinkwassers zeugen, bleibt das Wasser ein politisches Problem der kapitalistischen Gesellchaften. So führen zum Beispiel die Weltbank und die Welthandelsorganisation in ihren Empfehlungen zur Sanierung des Haushalts von sogenannten Entwicklungsländern immer noch die Privatisierung der Wasserversorgung in ihrem Maßnahmenkatalog.
Es kann nützlich sein, die Probleme bei der Organisation der Wasserversorgung zu bedenken, wenn man das Great-Man-Made-River-Projekt Muammar al-Gaddafis beurteilen will. Das Projekt, bei dem es unter anderem darum geht, Wasser aus Quellen, die tief unter dem Wüstenboden liegen, über ein gigantisches System von Rohrleitungen in die Wasserhähne der libyschen Bevölkerung einzuspeisen, kann mit einem Begriff von Louis Althusser als überdeterminiert bezeichnet werden.

Seit Gaddafi im August 1984 in Breda den Grundstein für das Pipelinesystem des Man-Made River gelegt hat, werden er und seine Propagandisten nicht müde, das Projekt zum achten Weltwunder zu erklären. Es ist aber nicht nur Gaddafis Propagandamaschine, die dem »größten Fluss der Welt«, als welcher das Leitungssystem auch bezeichnet wird, bewundernd Respekt zollen. So hat die BBC noch 2006 freudig mitgeteilt, dass der Man-Made River das Potential habe, alle Aspekte des Lebens in Libyen zum Besseren zu verändern. Ähnliche Berichte liest man bis heute in Österreich nicht nur in den Publikationen für Wasseringenieure, und auch in den USA sind es nicht allein geophysikalische Fachzeitschriften, die das Projekt feiern.
Es wäre falsch, die Gründe für die Begeisterung nur in der Tatsache zu suchen, dass an der Planung und Durchführung des Projekts Firmen aus all diesen Ländern beteiligt waren und deren Technologien verwendet wurden. Der Versuch, Wasser, das seit Jahrtausenden tief unter dem Grundwasser in der Erde verborgen liegt, an die Oberfläche zu pumpen, versprach nämlich die Lösung eines zuvor nicht zu bewältigenden Problems in semiariden Gebieten, in Klimazonen also, in denen die jährliche Niederschlagsmenge meist geringer ist als die Jahresverdunstung.
In solchen Regionen ist im Grundwasser normalerweise sehr viel Salz gelöst. Bei der Verdunstung des aufsteigenden Wassers bleibt immer Salz im Boden zurück, das sich zwangsläufig zu Mengen anreichert, die bei den Menschen, die das Wasser trinken, und bei Pflanzen zu Vergiftungserscheinungen führen kann. Neben dem Vermischungseffekt mit Meerwasser in den Küstenregionen war das einer der Gründe, warum in Libyen das Grundwasser oft unverträglich war.

Mit der Nutzung fossiler Wasserquellen, die seit etwa 40 000 Jahren in 300 Meter Tiefe eingeschlossen waren, konnte man diesem Versalzungseffekt ausweichen und Wasser gewinnen, das ohne schädliche Folgen trinkbar war und für die Bewässerung verwendet werden konnte. Dass es fossiles Wasser unter der libyschen Wüste gibt, wusste man seit Ende der fünfziger Jahre. Die Funde waren ein Nebenprodukt der Suche nach Erdöl, die in diesen Jahren vor allem von US-amerikanischen Firmen vorgenommen wurde.
Nach dem Putsch versprach man sich von der Nutzung der Wüstenquellen aber auch eine größere Unabhängigkeit vom Weltmarkt. Nachdem man die Kosten für eine großflächige Entsalzung von Meerwasser oder den Import von Wasser aus Europa gegen den Bau eines Pipelinenetzes zur Nutzung der eigenen Quellen abgewogen hatte, erwies sich der Man-Made River als die billigere Variante. Mit dem Geld aus dem Ölgeschäft war es auch kein Problem, die notwendigen Technologien einzukaufen und Firmen aus Südkorea, Deutschland, der Türkei, Japan, den Philippinen und Großbritanien zu bezahlen.
Dabei verpflichtete die libysche Regierung die Firmen, Libyer einzustellen und anzulernen. Nach offiziellen Angaben wurden im Jahr 2005 die Arbeiten am Pumpsystem zu 70 Prozent von Libyern verrichtet. Auf einer Pressereise, bei der man in diesem Jahr das Projekt vorführte, wurde dann vom libyschen Reiseleiter besonders der Anteil der Frauen in technischen Berufen hervorgehoben. Fragen nach der Herkunft der Technologien wurden allerdings mit Schweigen übergangen, denn man hat wohl auch auf die Erkenntnisse israelischer Experten zurückgegriffen – was der Begeisterung der libyschen Ingenieure für das Projekt aber keinen Abbruch tat. Und tatsächlich gab es über das Infrastrukturprojekt nach anfänglichen Rohrbruchproblemen seit 1993, als mit der Versorgung Bengasis mit dem Quellwasser begonnen werden konnte, viele Erfolgsmeldungen, die nicht erfunden waren.
Ein früh erkanntes Problem wurde aber in Gaddafis Propaganda nie erwähnt. Anfangs wurde eingewandt, durch das Abpumpen werde der Grundwasserspiegel sinken. Den Kritikern entgegnete man, die Quellen seien eingeschlossen. Unumstritten war, dass sie keine unterirdischen Zuläufe haben. Somit war schnell klar, dass das Wasser – wie das Öl – irgendwann zur Neige gehen würde. Während Gaddafi an der Behauptung festhielt, dass die Quellen 5 000 Jahre sprudeln würden, kommen realistischere Schätzungen auf einen Zeitraum von 50 bis – im besten Fall – 250 Jahren. Wenn es mit der Erbfolge geklappt hätte, wäre möglicherweise bereits ein Sohn Gaddafis mit dem Versiegen der Quellen konfrontiert worden.
Auch wenn früher oder später andere Methoden der Wasserversorgung gefunden werden müssen, rechnet sich das Großprojekt für Libyen bis jetzt. Das Land ist nun führend in der Hydrotechnik und damit in der Lage, seine Technologie in Länder Afrikas und des Mittleren Ostens zu exportieren, die vor ähnlichen Wasserversorgungsproblemen wie Libyen stehen. Überdies hat man vor ein paar Jahren begonnen, das Wasser nicht mehr nur als Trinkwasser zu verwenden, sondern auch für die Bewässerung landwirtschaftlicher Großprojekte zu nutzen. Auf den Farmen sollen vor allem Getreidesorten wie Weizen, Hafer, Mais und Gerste angebaut werden, die Libyen bislang importieren muss.

Mit der großflächigen Bewässerung von potentiellen Agrarflächen wurden aber auch die Fehler im System nicht nur Gaddafis offenbar. Es hatte bis dahin keine Untersuchungen gegeben, die zum Beispiel abzuschätzen versuchten, wie sich das Abpumpen des fossilen Wassers auf das Grundwasser auswirken würde. So kam es, dass man nun an manchen Orten doch einen sinkenden Grundwasserspiegel registrierte, ohne darauf vorbereitet zu sein und um die langfristigen Folgen zu wissen. Es steht damit um den Man-Made River wie um das ganze System Gaddafis: Die Unterdrückung von Kritik, sei es in der Politik, der Wirtschaft oder der Wissenschaft, lässt den nicht nur technischen Fortschritt, den dieses Projekt darstellt, in prekäre Verhältnisse umkippen.
»Wenn eine Regierungsform diktatorisch ist«, schrieb Gaddafi im »Grünen Buch« unfreiwillig prophetisch, werde »die Wachsamkeit der Gesellschaft« für Abhilfe sorgen: mit »Revolution gegen diese Regierungsform«. Den Man-Made River mit seinen Vorzügen und Nachteilen wird vermutlich in absehbarer Zeit eine neue Regierung übernehmen. Als Kriegswaffe aber kann er nicht eingesetzt werden. »Wenn eine Pipeline getroffen wird, sind die anderen ebenfalls betroffen«, sagte der Projektmanager Abdel Majid Gahoud im April in einer Warnung an die Nato. Das bedeutet auch, dass Gaddafi den Rebellen in Bengasi das Wasser nicht abstellen kann, ohne gleichzeitig Tripolis trockenzulegen.