Das neue Bildungskonzept der CDU

Hauptschüler ohne Hauptschule

Der Bundesvorstand der CDU hat ein neues Bildungskonzept verabschiedet. Bei den Koalitionspartnern kommt es nicht gut an.

Langjährige Anhänger der CDU haben derzeit wohl das Gefühl, dass sie in unsicheren Zeiten leben, zumindest, was die Berechenbarkeit ihrer Partei betrifft. Ob jetzt der »nächste Akt der Sozialdemokratisierung« folge, fragte die Welt vor ein paar Tagen beunruhigt. Anlass der Sorge war die Ankündigung der CDU, ihre Bildungspolitik zu überdenken. Ob sich die Partei nach dem Abschied von der Wehrpflicht und dem Ausstieg aus der Atomenergie auch noch zur glühenden Verfechterin der Gesamtschule läutern würde, stand nicht ernsthaft zur Debatte. Entsprechend entspannt klangen die Reaktionen, nachdem der Parteivorstand am Montag ein Papier verabschiedet hatte, über das die Regionalverbände nun bis zum »Bildungsparteitag«, der im November stattfinden soll, diskutieren werden.

Die Hauptschule sei »nicht mehr zu retten«, verkündete der sächsische Kultusminister Roland Wöllner, kurz nachdem er zusammen mit Bundesbildungsministerin Annette Schavan den Vorsitz der Kommission übernommen hatte, in der die CDU über ihre zukünftige Schulpolitik beraten wollte. Die Kommission hat Wöllners bahnbrechender Erkenntnis Rechnung getragen. Die Hauptschule soll abgeschafft werden, neben dem Gymnasium soll es eine »Oberschule« geben, die Haupt- und Realschule vereint. Sämtliche Zeitungen beglückwünschten die Partei zu ihrem Entschluss, endlich die gesellschaftliche Realität zu akzeptieren. Jahrelang hatten die Bildungspolitiker der Union mit zunehmend grotesk anmutender Verve in Interviews und Talkshows ihr Mantra von der Hauptschule aufgesagt, die gestärkt werden müsse und nicht geschwächt werden dürfe. Weder die stets schockierenden Ergebnisse der Pisa-Studien konnten sie beirren noch die Tatsache, dass kaum ein Bericht, auch in den sich seriöser gebenden Medien, beim Thema Hauptschule auf das abschätzige Attribut »Restschule« verzichten wollte. Dass die CDU nun festgestellt hat, dass man auch mit Beschönigungsrhetorik am desaströsen Image der Hauptschule nichts mehr wird ändern können, dürfte bei konservativen Gemütern kaum für Aufregung sorgen.

Die FAZ lobte die CDU für ihren »behutsamen Abschied von der Hauptschule«. Diese Formulierung bringt den Gehalt des neuen Bildungskonzepts präzise auf den Punkt, mehr als ein wenig Imagekorrektur möchte die Partei nämlich gar nicht betreiben. Das Gymnasium bleibt sakrosankt, und der Hauptschulabschluss wird auch nach der Abschaffung der mit ihm verbundenen Schulform weiterexistieren. Die Beschreibungen der »Oberschule« sind so auffallend vage gehalten, dass man den Eindruck gewinnt, die Kommission habe sämtliche Anstrengung in die neue Wortschöpfung gelegt, immer dem Credo folgend: Hauptsache, es klingt nicht nach Hauptschule. Bei der inhaltlichen Gestaltung des neuen Schultypus haperte es anschließend wohl ein wenig am kreativen Denkvermögen.
Die »Oberschule« soll den Weg in die »berufliche Bildung oder zur allgemeinen Hochschulreife« eröffnen. Diese Möglichkeiten werden bereits seit Jahrzehnten erfolgreich von den Gesamtschulen angeboten. Sämtliche CDU-Politiker, die sich zu den Vorschlägen der Kommission äußerten, verdrängten geflissentlich, dass es eine solche Schulform bereits gibt. Aus gutem Grund, schließlich reagiert die Klientel ihrer Partei auf die Erwähnung von Gesamtschulen immer noch ähnlich allergisch wie zu Beginn der achtziger Jahre, und außerdem möchte die CDU mit der »Oberschule« tatsächlich keine verschämte Kopie der Gesamtschule anbieten. Schon einige Tage vor der Präsentation des Papiers, das den Titel »Bildungsrepublik Deutschland« trägt, hatte Schavan klargestellt: »Wir machen keine linke Bildungspolitik, weil die in Deutschland gescheitert ist.« Entsprechend findet man in den schulpolitischen Konzepten der CDU keinen Hinweis auf ein längeres gemeinsames Lernen, und auch beim Thema Chancengerechtigkeit übt sich die Partei in Zurückhaltung. Marianne Demmer, Vorstandmitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), kritisierte, ebenso wenig wie am Gymnasium gerüttelt werde, würden die Sonder- und Förderschulen in Frage gestellt.
Routiniert ablehnend auf die schulpolitischen Pläne reagierte der Deutsche Philologenverband. Dessen Bundesvorsitzender, Heinz-Peter Meidinger, warnte die CDU davor, »ihre bildungspolitischen Grundsätze über Bord zu werfen«. Wer heute die Hauptschule aufgebe, könne morgen schon der Zusammenlegung von Oberschulen und Gymnasien das Wort reden, sagte er. Eine einleuchtende Begründung für die Befürchtung zu finden, dass hierzulande die Abschaffung des Gymnasiums drohe, dürfte für Meidinger allerdings eine echte Herausforderung sein.

Überraschend schmallippig kommentierte die FDP die bildungspolitischen Ambitionen ihres Koalitionspartners. Patrick Meinhardt, Bildungsexperte der FDP, sagte: »Dies ist ein Irrweg.« Es sei schließlich keinem Hauptschüler geholfen, wenn er künftig den Stempel »Oberschüler« trage. Seine Befürchtung, dass dem Hauptschüler an einer Oberschule, wie die CDU sie sich ausmalt, weiterhin die Rolle des Hauptschülers vorbehalten bleibe, ist durchaus berechtigt. Ob dem Hauptschüler denn mit dem Stempel »Hauptschule« geholfen ist, wäre eine Frage, die man Meinhardt und seiner Partei stellen könnte. Die FDP ist weiterhin Verfechterin einer strikten Trennung zwischen Gymnasiasten, Real- und Hauptschülern, schließlich harmoniert diese Haltung ausgezeichnet mit der Neigung der Partei, die Gesellschaft ihrem Leistungsparadigma zu unterwerfen.
Geradezu stoisch reagierte man zunächst in Bayern auf die Pläne, in Deutschland ein zweigliedriges Schulsystem zu etablieren, schließlich ist Bildungspolitik Ländersache. Das Bundesland werde selbstverständlich die Dreigliedrigkeit beibehalten, teilte der Kultusminister Ludwig Spaenle (CSU) mit. Trotz des Schülermangels müsse die Hauptschule als zusätzliche Schulform mit vertiefter Berufsorientierung erhalten bleiben. Dass es für Hauptschüler seit einigen Jahren beinahe unmöglich ist, überhaupt einen Ausbildungsplatz zu finden, wird von Bildungspolitikern der CSU mit unnachahmlicher Konsequenz ignoriert.
Wirklich empfindlich reagiert man in der Schwesterpartei allerdings, wenn es um die Betreuung von Kindern geht. Die CDU plant nämlich nicht nur die Abschaffung der Hauptschule, sondern auch eine stärkere Einbindung der Kitas in das Bildungssystem. Alle Einrichtungen, die der Betreuung noch nicht schulpflichtiger Kindern dienen, sollen zum festen Bestandteil der »Bildungsrepublik« werden. Diese Forderung lässt sich kaum anders denn als Drohung verstehen, denn die CDU spricht sich dafür aus, »Erziehungsverträge« mit den Eltern abzuschließen. Sollten die Eltern ihrem Erziehungsauftrag nicht in der Weise nachkommen, die der CDU geboten erscheint, möchte sie veranlassen, dass Vertreter des zuständigen Amtes Kontrollbesuche abstatten. Das klingt verdächtig nach einer Ausweitung der Sanktionsbefugnisse gegenüber den Beziehern von staatlichen Transferleistungen. Die CSU steht dem natürlich kritisch gegenüber: Sie fürchtet eine unbotmäßige Einmischung in das traditionelle Familiengefüge.