Costa Rica, ein Land ohne Armee

Make chips, not war

Dass Bildungsniveau und Lebensstandard in Costa Rica höher sind als in den Nachbarländern, ist nicht zuletzt eine Folge der Entmilitarisierung. Vor mehr als 60 Jahren wurde die Armee aufgelöst.

»Nein, die alte Festung hat zwar eine militärische Vergangenheit, aber die ist längst vorbei. Früher war das die Armeezentrale, heute ist das stattliche Gebäude unser Nationalmuseum – eine gute Entscheidung«, sagt Ronald Boia Sánchez mit breitem Grinsen. »Vor mehr als 60 Jahren haben wir Ticos uns entschieden, unsere Armee abzuschaffen, und das war eine großartige Idee«, erklärt der 63jährige drahtige Mann mit der sorgsam rasierten Glatze.
Am 1. Dezember 1948 schlug José Figueres, der damalige Präsident des Regierungsrats von Costa Rica, in der heute gelb angestrichenen Kaserne Bella Vista in der Hauptstadt San José mit einem Hammer eine der Mauern der Militärzentrale ein. Das war der symbolische Akt zur Abschaffung der Armee in Costa Rica, und aus der großen Kaserne wurde später ein Museum. Dort steht Ronald Boia Sánchez heute gern, um seine Dienste als Taxifahrer anzubieten.
Der Costa-Ricaner ist überzeugt, dass die Abschaffung der nationalen Armee für das Land ein voller Erfolg gewesen ist. »Das Geld, das man einsparte, hat man nämlich klug investiert – in die Bildung«, erklärt er stolz. Die Entmilitarisierung hat sich für die soziale und ökonomische Entwicklung des Landes ausgezahlt. »Ohne diese Entscheidung wären wir wohl kaum einer der wichtigsten Chip-Produzenten der Welt.«

Intel produziert in dem mittelamerikanischen Land Prozessoren en gros, und die Entscheidung für Costa Rica hat nicht nur etwas mit der Sicherheit und der Transparenz bei politischen Entscheidungen zu tun, sondern auch mit dem hohen Bildungsniveau. Ein Konstellation, die bei Investoren besonders beliebt ist. Auf die Vorzüge macht Präsidentin Laura Chinchilla gern aufmerksam, und die Bildungsausgaben sollen sogar erhöht statt, wie ansonsten in der Region üblich, gesenkt werden.
Sechs Prozent der Einnahmen sollen für die Ausbildung der Costa-Ricaner aufgewendet werden, kündigte die amtierende Präsidentin vor einigen Monaten an. Das hat Tradition, und daran will die konservative Regierungschefin nicht rütteln – zumal wohl auch sie weiß, dass es sich nicht lohnt, mit den Nachbarländern Nicaragua und Honduras um die geringsten Löhne zu konkurrieren.
Das Lohndumping nimmt teilweise bizarre Züge an. Zwar gibt es so etwas auch in Costa Rica, vor allem in der Landwirtschaft wird oft schlecht bezahlt und mit allen Mitteln die Organisation von Gewerkschaften hintertrieben, aber grundsätzlich ist die »Schweiz Lateinamerikas« ein sozialdemokratischer Wohlfahrtsstaat. Mitte der siebziger Jahre hat das einst als Bananenrepublik verpönte Land zudem den Natur- und den Umweltschutz entdeckt. Der Ökotourismus wird gefördert, der Tourismussektor wird daher nicht von großen Anbietern, sondern von vielen Kleinbetrieben dominiert und ist mit einem Anteil von derzeit acht Prozent am Bruttoinlandsprodukt (BIP) der wichtigste Wirtschaftssektor – noch vor dem Chip-Hersteller Intel. Der trägt fünf Prozent zum BIP und 40 Prozent zu den Exporteinnahmen bei.

Jeder fünfte Costa-Ricaner lebt in Armut, in anderen Staaten der Region ist fast die Hälfte der Bevölkerung arm. So steht Costa Rica im Entwicklungsindex der Uno auf Platz 54 und damit in der regionalen Spitzengruppe, das hohe Bildungsniveau hat dazu viel beigetragen. Kinder und Jugendliche in Costa Rica gehen durchschnittlich zehn Jahre zur Schule, während es im Rest Lateinamerikas nur sechs Jahre sind. Die von der Gesellschaft unterstützte Entscheidung gegen die Armee hat auch dazu geführt, dass sich Costa Rica 1983 zur permanenten Neutralität bekannte und bereits vier Jahre zuvor zum Sitz des Inter­amerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte wurde. Der tagt in der Hauptstadt San José.
Dass Costa Rica kein Heer unterhält, ist paradoxerweise einem Bürgerkrieg zu verdanken. Der Konflikt im Jahr 1948 endete mit der Flucht des Präsidenten und der Machtübernahme einer Junta liberal gesinnter Bürger, deren Anführer José Figueres zum neuen Präsidenten erkoren wurde. Der Sozialdemokrat Figueres schaffte daraufhin das Militär ab und schrieb in die Verfassung: »Wer den Frieden will, soll sich auf den Frieden vorbereiten und nicht auf den Krieg.«
Das hat bis heute in dem kleinen mittelamerikanischen Land, das etwa so groß ist wie Niedersachsen, recht gut geklappt. Während die Region jahrzehntelang von Diktaturen, Terror, Bürger- oder Guerillakriegen geprägt wurde, hat sich Costa Rica den Ruf der am besten funktionierenden Demokratie Lateinamerikas erworben. Politisch motivierte Gewalt wie in Honduras, Guatemala oder Nicaragua ist hier kaum zu finden, darin sind sich die Politikwissenschaftler einig.

Dennoch gibt es Sicherheitsprobleme, das kann man in San José beobachten, aber auch in Provinzsstädten wie Punta Arenas oder Puerto Viejo de Sarapiquí. Überall finden sich Gitter, Stacheldraht und oft auch unter Strom gesetzte Drähte, die vor Einbrüchen, Raub und Überfällen schützen sollen. Eine Reaktion auf die zunehmende Bedeutung Costa Ricas als Transitland für den Drogenhandel, ein Geschäft, das mexikanische und kolumbianische Kartelle ins Land gelockt hat.
Präsidentin Chinchilla hat mehr Sicherheit versprochen, und im vergangenen Jahr wurde auch die Zusammenarbeit zwischen der costa-ricanischen Polizei und den US-Drogenfahndern merklich ausgeweitet. Die Kooperation begann 1999, und Mitte 2010 reagierte die Bevölkerung ungläubig, als das Parlament die Befugnisse der USA in Costa Rica ausweitete und eine stärkere Präsenz von US-Truppen gestattete. Wenig später bekannte sich Chinchilla erneut zur Entmilitarisierung. »Wir werden in Costa Rica nicht zulassen, dass der Kampf gegen die Drogen militarisiert wird. Costa Rica ist ein Land ohne Armee, und wir brauchen keine Armee aus anderen Ländern, die uns sagen will, was in dieser Angelegenheit zu tun ist«, sagte sie in einem Interview. Zudem betonte die Präsidentin, dass ihre Regierung kein neues bilaterales Abkommen über militärische Zusammenarbeit mit den USA unterzeichnet habe.
Eine Aussage, die nicht nur bei dem Taxifahrer Ronald Boia Sánchez gut ankommt, denn die Ticos, wie sich die Costa-Ricaner selbst gern nennen, sind sehr zufrieden mit ihrer Neutralität und der Tatsache, dass es keine Armee gibt. Es geht auch ohne Militär, selbst bei Streitigkeiten wie dem Grenzkonflikt mit Nicaragua um den Verlauf des Rio San Juan. Im vergangenen Herbst forderte Nicaragua ein Uferstück und eine Insel, während Costa Rica dieses Territorium für sich beansprucht.
Über den Fall befinden nun die Gerichte, und Nicaragua, das den Konflikt möglicherweise aus innenpolitischem Kalkül provoziert hat, hütete sich, militärisch gegen das neutrale Nachbarland vorzugehen. Aus gutem Grund, denn Costa Rica anzugreifen, hätte die Regierung von Daniel Ortega politisch isoliert. »Ein Verdienst von José Figueres«, meint Ronald Boia Sánchez. Er hat sich nie ernstlich Sorgen gemacht, dass der alte Grenzkonflikt mit Nicaragua eskalieren könnte. »Wir sind als neutrales Land viel zu bekannt. Das schützt uns heute«.