Die neue Dotcom-Blase

Der virtuelle Rausch

Zehn Jahre nach dem Zusammenbruch der New Economy floriert an den Börsen wieder das Geschäft mit dem Internet. Der nächste Zusammenbruch ist lediglich eine Frage der Zeit.

Erinnert sich noch jemand an Webvan? Der 1996 gegründete Internet-Lebensmittel-Supermarkt wurde zu einem der Symbole der New-Economy-Blase. Nach seinem Börsengang im Jahr 1999 wurde das Unternehmen zunächst mit acht und später sogar mit 12,5 Milliarden US-Dollar bewertet – das entsprach damals ungefähr der Bewertung der Volkswagen AG. Die Aktien stiegen, ohne dass Webvan jemals Gewinne gemacht hätte. Im Nachhinein musste George Shaheen, der Chef von Webvan, eingestehen, dass jede Lebensmittellieferung im Wert von 100 Dollar durchschnittlich 143 Dollar gekostet habe. Die Lebensfähigkeit des Unternehmens konnte nur durch die stetige Ausgabe von Aktien erhalten werden. Bei Webvan wurden in den fünf Jahren seines Bestehens gut 1,2 Milliarden Dollar verbrannt. 2001 war dann vom einen auf den anderen Tag Schluss. Die verbliebenen 2 000 Mitarbeiter wurden entlassen, und auf der Website fanden die Kunden statt der Produktpalette nur noch folgende Notiz: »Wir danken Ihnen für die Unterstützung und Ermutigung. Es war uns eine Freude, Sie zu bedienen.«
Tatsächlich war der Fall Webvan »beispielhaft für den Wahnsinn dieser Ära«, wie der Spiegel damals feststellte. Nur dass dieser »Wahnsinn« keineswegs irrationalen Motiven wie dem Glauben an »Zauberformeln«, einem Herdentrieb oder übertriebener Gier entsprang, die nicht nur im Fall von Webvan verantwortlich gemacht wurden. Im Frühjahr 2000, auf dem Höhepunkt des New-Economy-Booms, hatte der summierte Börsenwert des zentralen Sektors dieser Branche, der Telekommunikationsunternehmen, allein in den USA etwa 2,7 Billionen US-Dollar betragen. Knapp anderthalb Jahre später waren davon kaum noch fünf Prozent übrig geblieben. Die meisten der Start-ups, große wie Webvan, aber auch Tausende sogenannter Garagenfirmen, waren da längst abgewickelt. Insgesamt wurden innerhalb weniger Monate Vermögenstitel von über fünf Billionen Dollar vernichtet.

Die Grundlage für diesen beispiellosen Einbruch stellte das desolate Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) der Dotcom-Firmen dar. Die im Nasdaq-Index verzeichneten Unternehmen der Branche brachten es im ersten Quartal des Jahres 2000 auf einen Wert von gerade mal 400:1. Zum Vergleich: Der Durchschnittswert der derzeitigen 30 Dax-Unternehmen beträgt etwa 14,6:1. Überakkumuliertes Kapital, für das wegen der bereits bestehenden Überkapazitäten in den produktiven Segmenten der Nationalökonomien keine Investitionsmöglichkeiten mehr gefunden werden konnten, wurde in die sich permanent vermehrenden spekulativen Papiere der New Economy investiert. Zusätzlich beschleunigt wurde diese Entwicklung durch die Niedrigzinspolitik der amerikanischen Notenbank, die den Zugang zu Krediten erleichterte. In seinem Buch »Boom & Bubble« hat der US-amerikanische Historiker Robert Brenner diesen Prozess folgendermaßen beschrieben: »Das entscheidende Problem lag dabei in der absurden Abkoppelung des Anstiegs des papiernen Reichtums vom Wachstum der Produktion und ganz besonders von dem der Profite in der zugrunde liegenden realen Wirtschaft.« Der Haken dieses bloßen »Anscheins von Reichtum« (Marx) lag logischerweise vor allem in der sich immer weiter vergrößernden Kluft, »die sich einerseits zwischen den erwarteten Profiten und andererseits den wirklichen Profiten aufgetan hatte«, so Brenner.

Nun scheint es erneut so weit zu sein. Bereits im Februar hatte Eric Schmidt, der im April vom Posten des Geschäftsführers zum Präsidenten des Verwaltungsrats bei Google wechselte, vor einer irrationalen Überbewertung von Internet-Plattformen gewarnt. Gegenüber dem Schweizer Magazin Bilanz hatte Schmidt von »klaren Anzeichen einer neuen Blase« gesprochen. Seit Mitte Mai das Business-Netzwerk Linkedin an die Börse gegangen ist, verdichten sich die Hinweise. Bereits am Ausgabetag der Aktien stieg der Kurs innerhalb weniger Stunden um 84 Prozent. Mittlerweile liegt der Gesamtwert der Aktien bei mehr als zehn Milliarden US-Dollar. Dabei hatte das Netzwerk im vorigen Jahr nur 243 Millionen Dollar Umsatz gemacht, der Gewinn betrug lediglich 15 Millionen. Dies entspricht einem KGV von über 600:1. Mittlerweile ist der Börsenwert von Linkedin höher als der der Lufthansa, die bei einem Umsatz von 27 Milliarden immerhin einen Gewinn von 900 Millionen Dollar ausweist.
Linkedin stellt dabei keineswegs eine Ausnahme dar. Die russische Suchmaschine Yandex erzielte bei ihrem Börsengang ohne konkrete Angaben über ihre Bilanzen auf Anhieb einen Gesamtwert von 11,3 Milliarden Dollar. Das chinesische Online-Videoportal Youku kostet an der Börse mittlerweile rund sechs Milliarden Dollar, der Umsatz des Portals liegt bei knapp 20 Millionen Dollar. Etwas besser sieht das Verhältnis bei der russischen Internetholding Mail.ru aus, die zuletzt rund 300 Millionen Euro Umsatz erzielte, an der Börse aber knapp acht Milliarden Dollar wert ist. Wirklich spektakulär fiel die Diskrepanz aus, als Microsoft Mitte Mai für 8,5 Milliarden Dollar Skype kaufte, denn bisher hat der Internet-Telefonanbieter trotz relativ hoher Umsätze von mehreren hundert Millionen Dollar noch überhaupt keinen Gewinn gemacht. Der Gutschein-Dienst Groupon könnte dies eventuell noch in den Schatten stellen. Der Wert des Unternehmens, das noch in der zweiten Hälfte dieses Jahres an die Börse will, bisher aber lediglich Verluste in Höhe von 500 Millionen Dollar angesammelt hat, wird auf unglaubliche 25 Milliarden Dollar geschätzt. Die Business Week mutmaßte bereits, das einzige, was Groupon hinterlassen werde, seien »süße E-Mails«.
Vor diesem Hintergrund hat Schmidt weniger Anlass zur Besorgnis. Zwar ist auch der Konzern Google, der bereits 2004 an die Börse gegangen war, nach Ansicht vieler Analysten überbewertet, sein KGV beträgt aber den vergleichsweise stabilen Wert von 21:1. Und das, obwohl der Preis einer Google-Aktie von seinem Ausgabewert von 85 Dollar mittlerweile auf 505 Dollar angestiegen ist. Angesichts der derzeitigen Entwicklung in der Internet-Branche stellt diese Expansion bei nicht völlig unrealistischen Gewinnerwartungen ein einmaliges Ergebnis dar. So werden die Stimmen, die vor einer neuen Blase warnen, zahlreicher. Die Überbewertungen seien »Zeichen irrationalen Überschwangs, der mit allem verbunden ist, was sozial heißt«, meint Josh Bernoff, Analyst der Marktforschungsgesellschaft Forrester Research. »Was man hier sieht, ist ein Enthusiasmus, der weit über die eigentlichen Aussichten des Unternehmens hinausreicht.« Einfacher drückt es Marc Andreessen, Mitbegründer von Netscape, aus: »Wenn die Leute zu euphorisch sind, dann kriege ich Angst.« Andreessen weiß, wovon er spricht. Netscape war eines der Erfolgsunternehmen in den neunziger Jahren, der Kurs seiner Aktie hatte sich bereits am ersten Tag verfünffacht. Mittlerweile ist Netscape in der Bedeutungslosigkeit verschwunden.

Richtig spannend könnte es werden, wenn Facebook als derzeit führendes Unternehmen der Internet-Kommunikationsbranche wie angekündigt demnächst an die Börse geht. Weil das Unternehmen noch nicht börsennotiert ist, verkaufen Mitarbeiter und Investoren ihre Aktien auf spezialisierten Handelsplattformen. Dort erzielten die Papiere bereits seit Oktober 2010 eine Steigerung des hochgerechneten Gesamtwertes von 35 auf fast 70 Milliarden US-Dollar, ein Ende dieser Entwicklung ist nicht in Sicht. Der US-amerikanische Fernsehsender CNBC berichtete kürzlich, wenn Facebook im nächsten Jahr an die Börse gehen sollte, werde das Online-Netzwerk mehr als 100 Milliarden Dollar wert sein – mehr als die Lufthansa, die Deutsche Bank und die Deutsche Post zusammen. Angesichts der geschätzten 600 Millionen Kunden der Plattform wäre jeder Kunde mehr als 150 Dollar wert, obwohl die Teilnahme bei Facebook kostenlos ist und Gewinne nur durch Werbung zustande kommen. Bei geschätzten 355 Millionen Dollar Gewinn im vorigen Jahr käme Facebook auf ein ähnlich desolates KGV wie andere Internet-Unternehmen.
Noch gibt es aber einige Analysten, die keine Analogie zur Entwicklung um die Jahrtausendwende ziehen wollen. Matt Brischetto etwa, der bei der Investmentbank Pacific Crest Securi­ties für Internet-Unternehmen zuständig ist, sieht keine deutlichen Parallelen zur Hausse der neunziger Jahre. Zwar werde sich der Kurs von Linkedin den Realitäten anpassen müssen, der Unterschied sei aber, »dass es nun echte Unternehmen sind, die Geld verdienen«. Nur nicht genug, könnte man hinzufügen, denn eine deutliche Steigerung der Gewinne ist selbst nach Aussage der Unternehmen zumeist nicht zu erwarten. Andere Analysten zeigen sich abwartend. Scott Kessler von Standard & Poor’s gestand kürzlich zwar öffentlichkeitswirksam ein, dass »Überhitzungen« vorlägen, diese beschränkten sich aber lediglich auf »wenige Firmen«. Es sei »vermutlich noch ein bisschen früh, um Alarm zu schlagen«, sagte Kessler.
Ähnlich klingende Äußerungen konnte man Ende der neunziger Jahre auch schon hören. Wahrscheinlicher ist, dass Robert Brenner Recht behalten wird. In seinem 2005 erschienen Werk »The Economics of Global Turbulence« prognostiziert er, dass die Profitraten mit den derzeitigen Mitteln nicht mehr stabilisiert werden könnten und »der lange Abschwung nicht zu überwinden« sei, sondern Blase auf Blase folgen werde. Nach dem Zusammenbruch der New Economy und dem der Immobilienmärkte mehren sich nun die Hinweise, dass ein Platzen der Blase im Internet- und Kommunikationsbereich bevorsteht. Manchmal wiederholt sich Geschichte gleich doppelt als Farce. Der damalige Sprecher von Webvan, Bud Grebey, könnte zu später Genugtuung kommen. Am Tag der Insolvenz hatte er großspurig verkündet, er sei stolz auf das, was Webvan geschaffen habe. »Wir glauben, wir hatten ein brillantes Konzept. Wir waren nur unserer Zeit voraus.« In gewisser Weise hat er Recht behalten.