Über den Zustand der deutschen Anti-AKW-Bewegung

Ausspannen und weitermachen

Die Anti-Atomkraft-Bewegung gönnt sich nach den Protesten der vergangenen Monate erst einmal Ruhe. Ihrem Ziel sind die AKW-Gegner durch den Beschluss zum Ausstieg aus der Atomkraft im Bundestag näher als je, bei aller Kritik im Detail. Nun geht es um die Verwaltung des Ausstiegs – und darum, neu hinzugekommene Atomkraftgegner an die Bewegung zu binden.

Wer hat’s erfunden? Krampfhaft war jede Fraktion bemüht, den »Atomausstieg« als eigenen Erfolg zu reklamieren, bevor Ende Juni die Mehrheit im Bundestag stand. Es war schon nett anzusehen, wie Schwarz-Gelb in der Regierung und Rot-Grün in der Opposition begründen wollten, warum der »Jetzt-aber-wirklich-Ausstieg« ihnen zu verdanken sei. Renate Künast, Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, verwies immerhin auch auf die Menschen außerhalb des Parlaments, die in den Wochen zuvor mehr protestiert als geschlafen hatten: »Dieser Schritt gehört diesen Menschen.«
Diese Menschen betrachten den »Atomausstieg« selbstverständlich auch als Ergebnis ihrer eigenen Bemühungen. Kraft hat er schließlich reichlich gekostet. »Nach zweieinhalb Monaten Dauerprotest zeigen sich leichte Ermüdungserscheinungen«, sagt Christoph Bautz von der Kampagnenplattform Campact. Er bezeichnet den Ausstiegsbeschluss als »Riesenerfolg für die Bewegung«. Zwar habe die Katastrophe von Fukushima bei der Entscheidung der Regierung eine Rolle gespielt, »doch ohne die Proteste wäre die nicht möglich gewesen«. Auch Stefan Diefenbach-Trommer von der Initiative »Ausgestrahlt« kann dem Beschluss etwas abgewinnen: »Mit den Atomkraftwerken, die bereits jetzt stillgelegt werden, fallen einige Baustellen weg.« Proteste, die bei den nun abgeschalteten sieben AKW und dem Reaktor Krümmel gebunden waren, können sich nämlich nun den neun verbliebenen zuwenden.
Nach Jahren ungezählter Protestaktionen und enttäuschter Erwartungen gibt es nun also endlich einen Erfolg für die Atomkraftgegner. Doch statt zu feiern, bleibt Diefenbach-Trommer in seiner Einschätzung eher nüchtern: »Beim Thema Stilllegung sind wir jetzt erstmal an einem Punkt angekommen. In dieser Hinsicht sind weitere Kampagnen eher mittelfristig angelegt.« Vor dem Wahljahr 2013 erwartet er keine neuen Entscheidungen zum Ausstieg. Aber spätestens dann werden Trommeln und Transparente wohl wieder aus dem Keller geholt.
Außerdem dürfte die Freude schnell verfliegen, wenn sich die Atomkraftgegner den Ausstiegs­beschluss genauer anschauen. Enttäuscht sind sie vor allem darüber, dass das letzte AKW erst 2022 vom Netz gehen soll. Bis dahin möchte die Regierung alle neun verbleibenden AKW in mehreren Schritten herunterfahren. Die Grünen hatten einen Ausstieg bis 2017 gefordert, bevor sie sich mit einem Parteitagsbeschluss Ende Juni entschieden, die Regierungspolitik zu unterstützen.

Dass sie am nun geltenden Ausstiegsbeschluss noch einmal etwas ändern können, glauben die Organisatoren der Anti-AKW-Proteste aber nicht. »Das Atomgesetz noch einmal aufzuknüpfen, das ist wohl nicht machbar«, sagt Bautz. So viel politischer Realismus muss sein.
Zudem ist die Liste der Aufgaben für die Protestbewegung noch lang. So ändert auch der »Atomausstieg« nichts daran, dass viele der AKW nicht sicher genug sind. Bei einem Flugzeugabsturz auf einen Meiler droht weiterhin der Super-Gau. Daher wollen sich die Atomkraftgegner nun stärker für Reaktorsicherheit einsetzen.
Und für November haben sich im Wendland alte Bekannte angekündigt. Dann sollen wieder Castoren mit Atommüll in Richtung Gorleben fahren. Dieser Transport werde für die Bewegung besonders wichtig, sagt Diefenbach-Trommer: »Gorleben wird für uns zum Problem, weil mit dem jetzt beschlossenen halben Ausstieg der politische Druck gestiegen ist, ein Endlager zu finden.« Noch in diesem Jahr sei ein Gesetzentwurf zu dem Thema zu erwarten. Die Anti-Atom-Initiativen setzen sich für eine bundesweite Endlagersuche ein, da sie Zweifel an der Sicherheit des Salzstocks in Gorleben haben. »Wir wollen erreichen, dass nach entsprechenden Ankündigungen aus den Ländern nun auch wirklich ergebnisoffen gesucht wird«, sagt Bautz.
Auch die politische Debatte um Laufzeitverlängerungen von AKW werde wiederkommen, vermutet Diefenbach-Trommer. Denn das geplante Ende der sechs Atomkraftwerke mit der längsten Laufzeit fällt in die Zeit um das Wahljahr 2021. »Das wird ein Kampf um jedes einzelne AKW«, so Diefenbach-Trommer. Für gefährlich hält er vor allem die Ansicht, mit dem beschlossenen »Atomausstieg« sei das Thema der Laufzeiten erledigt: »Viele Abgeordnete von CDU und FDP waren mit dem Beschluss nicht glücklich. Ich halte das Thema noch nicht für endgültig entschieden.«
Dass Gesetze mit den politischen Veränderungen kommen und gehen, hat die Geschichte des Ausstiegs (2011) aus dem Ausstieg (2010) aus dem Ausstieg (2001) gezeigt. Da sich die Linkspartei mit ihrer Forderung nicht durchsetzen konnte, den »Atomausstieg« auch im Grundgesetz zu verankern, kann bei veränderter politischer Stimmungslage das Ende der Atomkraft schnell wieder fraglich werden.

Wenn das Thema erneut aufkommt, wird für die Atomkraftgegner viel davon abhängen, welche Mobilisierungskraft sie über die aktuelle Protestphase hinwegretten können. Zumindest fürs Erste dürften viele Menschen protestmüde geworden sein. »Für die große Masse ist das Thema Atomausstieg erledigt. Die Mobilisierungsfähigkeit der Bewegung ist nach dem Beschluss im Parlament stark eingeschränkt«, sagt der Protestforscher Simon Teune vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Allerdings seien die Netzwerke in den vergangenen Monaten stark gewachsen. Mit dem Thema Atommüll sei das Potential womöglich wieder abrufbar.
Christoph Bautz von Campact glaubt, auf die Erfolge der vergangenen Monate aufbauen zu können. So habe die Anti-AKW-Bewegung noch im Mai mit 160 000 Teilnehmern die zweitgrößte Demonstration ihrer Geschichte organisiert. »Mit Detailfragen des Atomausstiegs wie den Sicherheitsstandards einzelner AKW werden wir sicher nicht wieder eine solche Massenbewegung auf die Straße bringen können«, vermutet er. Für den kommenden Castor-Transport erwartet er jedoch einen ähnlich großen Protest wie im vergangenen Herbst.

Wenig Anerkennung dürften dann prominente Atomkraftgegner der Grünen erfahren. Die Bewegung zeigt sich nach der Zustimmung zum Ausstiegsbeschluss der Regierung entfremdeter denn je von der selbsternannten Öko-Partei, die in der Vergangenheit die Anti-AKW-Proteste immer wieder unterstützt hatte. »Das Verhältnis zu den Grünen hat sich eher verschlechtert. Die Aktivisten sind enttäuscht, dass das Ausstiegsjahr 2017 gekippt wurde«, sagt Teune. Die Organisatoren der Proteste schildern es drastischer. »Das Verhältnis ist belastet«, so Bautz. Stefan Diefenbach-Trommer zufolge sind »viele Leute verärgert« über das Verhalten der Parteispitze. Zahlreiche Mitglieder der Grünen teilten diese Kritik.
Auf Empörung ist insbesondere eine Ankündigung der stellvertretenden Bundestagsfraktionsvorsitzenden Bärbel Höhn gestoßen, auch bei einer möglichen Regierungsbeteiligung im Jahr 2013 beim Ausstieg erst bis 2022 zu bleiben. So groß ist der Ärger, dass Diefenbach-Trommer vergleichsweise lobende Worte sogar für die CDU findet: »Wie wir gesehen haben, kann man auch mit einer CDU-Regierung einiges erreichen. Das zeigt, dass die Bewegung keine natürlichen Bündnispartner im Parlament hat, sondern sich an die wenden muss, die gerade die Regierung stellen.«