Gustavo Gallón im Gespräch über die Gewalt der Paramilitärs in Kolumb

»Der Konflikt existiert«

Gustavo Gallón Giraldo ist Direktor der kolumbianischen Juristenkommission und einer der prominentesten Kritiker der Menschenrechtspolitik der Regierung. Im »Friedensprozess« war er als unabhängiger Experte unter anderem für die 1991 gegründete Kommission zur Überwindung der Gewalt tätig. In dem seit mehr als 60 Jahren andauernden Bürgerkrieg stehen die kolumbianische Regierung und von ihr unterstützte paramilitärische Gruppen zwei Guerilla­organisationen gegenüber. Der ehemalige kolumbianische Präsident Álvaro Uribe Vélez ging äußerst repressiv gegen die Guerilla, aber auch gegen jegliche zivile Opposition vor. Sein konservativer Nachfolger ist Juan Manuel Santos.

Seit dem Amtsantritt von Juan Manuel Santos im August vorigen Jahres hat es ein paar positive Nachrichten aus Kolumbien gegeben. Gibt es echte Fortschritte in Hinblick auf die Wahrung der Menschenrechte?
Ja, allerdings besteht nach wie vor ernsthafter Grund zur Sorge. Zu den Fortschritten zählt sicherlich der deutlich tolerantere Umgangston der Regierung, der nicht zu vergleichen ist mit dem aggressiven und respektlosen Gestus der Regierung von Álvaro Uribe Vélez – das ist positiv und das wissen wir alle nach acht Jahren zu schätzen. In diesen acht Jahren konnte man nur für oder gegen die Regierung sein. Wer nicht für den Präsidenten war, wurde sofort der Sympathie mit den Terroristen verdächtigt. Das galt für Politiker und Menschenrechtsaktivisten genauso wie für Richter und Staatsanwälte. Der zweite positive Punkt ist, dass die Regierung sich erstmals mit der Situation der Opfer der Gewalt und des Bürgerkriegs und mit der Landfrage auseinandersetzt und zwei entsprechende Gesetze auf den Weg gebracht hat. Die Maßnahmen reichen zwar bei weitem nicht aus, aber sie sind ein Schritt in eine neue Richtung.
Was bringt denn das neue Landgesetz? Wird es eine Landreform geben, um die eigentlichen Ursachen von mehr als 60 Jahren Bürgerkrieg zu beseitigen?
Nein, ganz so weit geht es nicht. Immerhin ist die Regierung gewillt, zwei Millionen Hektar Land, das sich Paramilitärs und Drogenbarone gewaltsam angeeignet hatten, neu zu verteilen. Die Initiative reicht nicht aus, sie ist aber ein wichtiger erster Schritt. Es gibt aber bereits Gegner dieser Landverteilung, die sogar zur Regierung selbst gehören, und die Regierung weiß das auch. Das erschwert die Sache.
Diese Gegner dürften doch zum rechten Rand um den ehemaligen Präsidenten Uribe gehören. Ist es nicht sehr riskant, sich mit diesen Kreisen anzulegen?
Ja, denn sie verfolgen andere Interessen und sind einflussreich. Aber die Regierung hat ihnen auch mit dem »Gesetz der Opfer« zur Entschädigung der Gewaltopfer sicherlich keine Freude bereitet.
Wie beurteilen Sie dieses Gesetz? Ist es auch nur ein Anfang, der den Anforderungen bei weitem nicht genügt?
Das kann man so sagen. Allerdings muss es nachgebessert werden. Es ist nicht vertretbar, dass beispielsweise Opfer der Paramilitärs keine Ansprüche auf Wiedergutmachung haben. Die Regierung hat die Bezeichnung paramilitärischer Gruppen in bacrim geändert, bandas criminales (kriminelle Banden), doch das geht an der Realität vorbei, denn es handelt sich nicht um gewöhnliche Verbrecher. Ausgeschlossen von Wiedergutmachungen sind auch Angehörige der Guerilla, selbst wenn sie gefoltert wurden. Das ist ein weiterer elementarer Fehler. Das Gesetz hat nur symbolischen Charakter, aber wichtig ist erst einmal, dass eine Kehrtwende vollzogen wurde.
Die alte Regierung hatte mehrfach die Unabhängigkeit der Justiz in Frage gestellt. Gibt es auch Fortschritte im Bereich der Justiz?
Ja, es gibt wieder einen respektvollen Umgang miteinander, und das gilt auch für uns, die kolumbianische Juristenkommission. Wir haben bei den Vereinten Nationen einen Beobachterstatus und werden überall respektiert. Nur im eigenen Land wurden wir überwacht, diffamiert und angeklagt. Mit dem Regierungsantritt von Juan Manuel Santos hat sich das geändert.
Das klingt nach einem vielversprechenden Beginn für die neue Regierung, der kaum zu erwarten war. Denn schließlich war Santos als Verteidigungsminister unter Uribe doch auch mitverantwortlich für den einen oder anderen Skandal.
Ja, aber das ist nur die eine Seite der Medaille, denn die Aktivitäten der Paramilitärs und der Guerilla gehen unverändert weiter. Und die Regierung hält an dem militärischen Konzept der Vorgänger fest. Die Politiker, die mit den Paramilitärs kooperiert haben, wurden immer noch nicht zur Rechenschaft gezogen wurden.
Menschenrechtsaktivisten in Medellín, in Barrancabermeja oder Córdoba geben an, dass diese Städte faktisch von den Paramilitärs kontrolliert werden. War die ganze Demobilisierung der Paramilitärs ein Betrug?
Ja, denn es gab keinen Friedensprozess, sondern lediglich eine Umetikettierung. Es ist zu Demobilisierungen gekommen, aber sicherlich nicht aller Verbände und erst recht nicht der gesamten Führungsebene. Dass es auf internationaler Ebene keine Proteste gab, ist kaum zu verstehen.
Obwohl der Prozess zu großen Teilen international finanziert wurde …
Ja, umso erstaunlicher.
Aber nach und nach muss die Regierung doch zugeben, dass es immer mehr Paramiltärs gibt?
Zunächst waren es der Regierung zufolge 3 000, nun sind es 5 000. Unabhängige Studien kommen dagegen auf 8 000 bis 10 000. Manche Gruppen agieren inzwischen anders und es gab Dispute untereinander, aber unterm Strich bleiben alle Paramilitärs. Es gibt ein grundsätzliches Problem: Viele Kolumbianer glauben, dass die Situation nun besser ist. Die Propaganda unter Uribe hat hier Wirkung gezeigt, im In- wie im Ausland.
Haben die Menschen lieber daran geglaubt als genau hinzusehen?
Ja, der »Parapolítica«-Skandal, als die Verbindungen zwischen Politikern und Paramilitärs bekannt wurden, ist genauso wenig richtig wahrgenommen worden wie die extralegale Hinrichtung der rund 3 000 sogenannten falsos positivos, Menschen, die das Militär ermordet und anschließend als Guerilleros deklariert hatte, um Fortschritte in der Aufstandsbekämpfung zu demonstrieren und Kopfgeld zu kassieren.
Hat sich das unter Präsident Santos geändert?
Nein, eben nicht, denn er hält an der Militärstrategie seines Vorgängers fest, und es gibt viele Zonen, wo das Militär den Ton angibt.
An welche Regionen denken Sie dabei?
An Macarena, wo mehrere Massengräber gefunden wurden, an Arauca, an Chocó … die Liste ist lang und es sind ländliche Gebiete, in denen obendrein oft Minderheiten leben.
Auch hinsichtlich des Skandals um die falsos positivos gibt es bisher kaum Gerichtsurteile, oder?
Genau, da ist wenig passiert. Auch in Bezug auf den Geheimdienstskandal, als zahlreiche Richter, Journalisten, Politiker und Menschenrechtsaktivisten abgehört und ausspioniert wurden, ist nichts passiert. Das gleiche gilt für die vier Millionen Menschen, die von ihrem Land vertrieben wurden. Es gibt kaum Urteile, die in die Zukunft weisen. Das liegt an strukturellen Problemen. Die Straflosigkeit ist sicherlich eines der gravierenden Pro­bleme Kolumbiens. Es fehlen auch präventive Programme, so dass sich ein Teufelskreis entwickelt hat. Da fehlt es am politischen Willen.
Das widerspricht allerdings entschieden dem Bild eines Kolumbien, das den Konflikt überwunden hat. Stimmt dieses Bild?
Nein, denn der Konflikt existiert nach wie vor und es hat auch nicht den Anschein, als ob sich daran etwas ändern könnte.
Die Zivilbevölkerung scheint sich aber wieder zu Wort melden. So wird zum Beispiel gegen den Goldbergbau in Bucaramanga protestiert. Sind das positive Signale?
Auf jeden Fall. Solche Proteste hat es lange nicht gegeben, und wenn das Schule macht, würde ich mich sehr darüber freuen.